Emo­tio­na­le Klug­heit


Ein Schreibtisch, auf dem ein paar Bücher liegen. In der Mitte ein aufgeschlagenes Buch, über dem eine wunderschöne Schreibfeder schwebt.

Hilfs­be­reit­schaft für frem­de Men­schen

Es ist klug, ande­ren Men­schen zu hel­fen und freund­lich zu ihnen zu sein, beson­ders wenn wir sie gar nicht ken­nen und viel­leicht nie wie­der sehen wer­den.

Hel­fen wir allein auf­grund einer Gemein­sam­keit, hat unse­re Hil­fe den Cha­rak­ter eines Kuh­han­dels: Wir erhal­ten als Gegen­leis­tung für unse­re Hil­fe die Auf­recht­erhal­tung und Fes­ti­gung einer Freund­schaft, Dank oder Zunei­gung.

Es ist leicht, Men­schen zu hel­fen, die einem wich­tig sind. Wir hel­fen unse­ren Ver­wand­ten und Freun­den und stär­ken so unse­ren sozia­len Hin­ter­grund. Wir tun das nicht nur, weil wir eine emo­tio­na­le Bin­dung zu die­sen Leu­ten haben.

Um uns im Kon­kur­renz­kampf die­ser Ell­bo­gen­ge­sell­schaft bes­ser behaup­ten zu kön­nen, brau­chen wir „Ver­bün­de­te“. Die fin­den wir dort am leich­tes­ten, wo es sie von Natur aus gibt: in unse­rer Fami­lie, im Ver­wand­ten- und Freun­des­kreis.

Gegen­sei­ti­ge Hil­fe unter Fami­li­en­mit­glie­dern und Freun­den ist wie eine Ver­si­che­rung gegen mög­li­che zukünf­ti­ge Pro­ble­me. Doch das soll­te nicht der eigent­li­che Beweg­grund für unse­re Men­schen­freund­lich­keit sein.

Unei­gen­nüt­zig­keit nützt allen Men­schen

Die bes­te Hil­fe ist die unei­gen­nüt­zi­ge. Wenn wir einem Men­schen hel­fen, obwohl wir ihn gar nicht ken­nen und er auch nichts von unse­rer Hil­fe weiß, sind wir wirk­li­che Men­schen­freun­de. Denn frem­den Men­schen zu hel­fen erzeugt ein all­ge­mei­nes Kli­ma der Freund­lich­keit. Und das ist alles, was die Welt braucht: mehr Men­schen­freun­de.

Beson­ders klug ist es, freund­lich und hilfs­be­reit auch zu den Men­schen zu sein, die einem unsym­pa­thisch sind. Denn Abnei­gun­gen spie­geln oft nur Vor­ur­tei­le wider. Wir soll­ten hel­fen, um zu hel­fen, nicht um uns etwas bewei­sen oder Sym­pa­thien gewin­nen zu wol­len.

Nicht nur der Mensch, dem gehol­fen wird, pro­fi­tiert von der Hil­fe, son­dern auf lan­ge Sicht auch der Hel­fen­de. Und je mehr wir frem­den Men­schen hel­fen, des­to grö­ßer ist die Wahr­schein­lich­keit, dass uns selbst von frem­den Men­schen gehol­fen wird.


Illustration eines traurigen Kindes, das ein einschnürendes Korsett trägt. Zwei gesichtslose Erwachsene stehen daneben und legen ihm beruhigend die Hände auf. Das Bild symbolisiert, wie gesellschaftliche Anpassung in der Kindheit die Individualität einengt und persönliche Schwächen und Fehler verursacht.

Ver­ständ­nis für die Schwä­chen der Men­schen

Klug ist es, Ver­ständ­nis für unse­re Schwä­chen und Feh­ler zu haben. Wir alle haben es nicht leicht, denn in unse­rer Kind­heit wur­den wir gesell­schafts­kon­form gemacht, das heißt, unse­re Indi­vi­dua­li­tät wur­de in ein Kor­sett gezwängt. Vie­le unse­rer per­sön­li­chen Fähig­kei­ten und Eigen­ar­ten wur­den unter­drückt oder ver­krüp­pelt, in schlim­men Fäl­len sogar ganz weg­ge­züch­tet.

Als Ersatz wur­den uns Ver­hal­tens­wei­sen aner­zo­gen, die ursprüng­lich nicht unse­re waren. Man hat uns unse­re Indi­vi­dua­li­tät abtrai­niert, weil die Gesell­schaft über­wie­gend kon­for­me, ein­heit­li­che Men­schen benö­tigt.

Auf einer tie­fe­ren, ver­steck­ten Ebe­ne unse­rer Per­sön­lich­keit sind wir des­halb alle schi­zo­phren.

Wir sind nicht die, die wir wären, hät­te man uns unse­ren ange­bo­re­nen Ver­an­la­gun­gen ent­spre­chend auf­wach­sen las­sen. Und die­sen Ver­lust unse­res eigent­li­chen Wesens kom­pen­sie­ren wir als Erwach­se­ne durch aller­lei Ange­wohn­hei­ten, Marot­ten, Trau­ma­ta und Psy­cho­sen – tech­nisch aus­ge­drückt: Funk­ti­ons­stö­run­gen.

Dum­me Ange­wohn­hei­ten, Marot­ten und über­trie­be­ne Ritua­le

Eine typi­sche, weit­ver­brei­te­te Schwä­che ist bei­spiels­wei­se das Ziga­ret­ten­rau­chen. In unse­rer Jugend fin­gen wir aus Dumm­heit, Nai­vi­tät oder Grup­pen­zwang damit an. Jetzt, da wir dar­an gewöhnt und phy­sisch oder psy­chisch davon abhän­gig sind, kön­nen wir uns davon nur schwer bis über­haupt nicht tren­nen, obwohl wir längst wis­sen, dass die­se Ange­wohn­heit eine Dumm­heit und oben­drein gesund­heits­schäd­lich ist. Wir besit­zen nicht die Wil­lens­kraft, sie aus­zu­trock­nen.

Als Rau­cher brau­chen wir das Ritu­al des Rau­chens, um im All­tag gewohn­heits­mä­ßig funk­tio­nie­ren zu kön­nen.

Ande­re Ange­wohn­hei­ten, die man als Schwä­chen inter­pre­tie­ren kann, sind der über­mä­ßi­ge Kon­sum aller­lei über­flüs­si­ger Güter, aber auch die über­trie­be­ne Fixie­rung auf Hob­bys oder Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten. Damit bän­di­gen wir unse­re inne­re Unru­he, denn tief in unse­rem Inne­ren spü­ren wir, unser Leben könn­te eigent­lich ganz anders sein. Denn solan­ge wir es unse­ren Ange­wohn­hei­ten gestat­ten, unse­ren Tages­ab­lauf zu bestim­men, sind wir beschäf­tigt, was unse­re inne­re Stim­me der Ver­nunft betäubt.

Es geht nicht dar­um, die­se Ange­wohn­hei­ten von heu­te auf mor­gen abzu­le­gen, son­dern sie zu erken­nen und raus­zu­krie­gen, wel­che Funk­tio­nen sie haben.

Ener­gie- und Kraft­ver­schwen­dung ver­mei­den

Um gegen unse­re Gewohn­hei­ten und Zwän­ge anzu­kämp­fen, brau­chen wir viel Kraft und Dis­zi­plin. Theo­re­tisch könn­ten wir die­se viel­leicht auf­brin­gen, doch nur auf Kos­ten unse­rer Leben­dig­keit. Es ist daher rat­sam, uns nicht auf die Besei­ti­gung unse­rer Feh­ler und Schwä­chen zu fixie­ren. Wir soll­ten sie wahr­neh­men und als das erken­nen, was sie sind: dum­mer Ange­wohn­hei­ten oder Marot­ten, die unse­re Ent­wick­lung behin­dern.

Aber uns soll­te klar sein, dass sie fes­te Bestand­tei­le unse­res Lebens sind, die wir – solan­ge wir sie nicht ver­stan­den haben – nicht eli­mi­nie­ren kön­nen, ohne uns selbst auf einer ver­bor­ge­nen Ebe­ne zu scha­den.

Wir soll­ten auch für die Schwä­chen und Feh­ler unse­rer Mit­men­schen Ver­ständ­nis auf­brin­gen – was uns oft nicht leicht fällt. Sie haben es genau­so schwer wie wir und auch ihnen sieht man es genau­so wenig an wie uns.

Erst wenn wir unse­re Feh­ler und die unse­rer Mit­men­schen mit Gelas­sen­heit wahr­neh­men kön­nen, kön­nen wir auch an ihnen arbei­ten, sodass sie nach und nach ihre Macht über uns ver­lie­ren. Andern­falls ver­kramp­fen wir uns nur und machen alles nur noch schlim­mer. Dann kann es gesche­hen, dass wir eine dum­me Ange­wohn­heit able­gen, aber durch eine ande­re erset­zen, die viel mehr Scha­den anrich­tet.

Sich von fest­ge­fah­re­nen Kon­di­tio­nie­run­gen zu lösen, ist also sehr schwer, des­we­gen müs­sen wir gedul­dig sein. Es ist klug, unse­re Feh­ler ver­ständ­nis­voll zu betrach­ten, denn es gibt sie nicht grund­los. Erken­nen wir die Funk­ti­on unse­rer dum­men Ange­wohn­hei­ten, kön­nen wir sie nach und nach auf­wei­chen, bis sie letzt­end­lich ganz ver­schwin­den.


Authen­ti­zi­tät braucht Mut

Anpas­sung darf kei­ne Anbie­de­rung sein.

Klug ist es, in mög­lichst vie­len Berei­chen, die nicht uni­ver­sell sind, eine selbst ent­wi­ckel­te Mei­nung und einen eige­nen Lebens­stil zu haben. Das hält uns geis­tig frisch und die Opti­on zur stän­di­gen Wei­ter­ent­wick­lung offen. Jeder Mensch soll­te des­halb so indi­vi­du­ell wie mög­lich sein. Wir dür­fen uns nicht von der Mär irri­tie­ren las­sen, Indi­vi­dua­li­tät wäre iden­tisch mit Ego­zen­trik oder damit ver­wandt.

Selbst­ver­ständ­lich soll­ten wir die Geset­ze und die sinn­vol­len Kon­for­mi­tä­ten respek­tie­ren, aller­dings nicht in über­trie­be­ner Wei­se. Wer zu sehr vom all­ge­mei­nen Stan­dard abweicht, ris­kiert belä­chelt, aus­ge­grenzt oder gemobbt zu wer­den.

Nie­mand möch­te allein und iso­liert leben und des­halb pas­sen wir uns mehr an, als es sinn­voll ist. Es bedarf Mut, inmit­ten einer kon­for­men Mas­se Indi­vi­dua­li­tät zu zei­gen, beson­ders wenn sie aus­ge­prägt ist. Und nur aus­ge­präg­te Indi­vi­dua­li­tät ist wirk­li­che Indi­vi­dua­li­tät.

Wir dür­fen kei­ne Angst haben, als Uni­kum oder Son­der­ling zu gel­ten. Wir brau­chen den Mut zur Unsi­cher­heit und Bla­ma­ge, den Mut, sich aus­la­chen zu las­sen, den Mut anzu­ecken, den Mut zur Absur­di­tät und Ver­rückt­heit.

Die Gesell­schaft braucht drin­gend Men­schen, die neue, unkon­ven­tio­nel­le Wege gehen und die sich nicht davon ein­schüch­tern las­sen, wenn über sie gelacht wird. Denn auch hier gilt: Damit wir uns als Mensch­heit wei­ter­ent­wi­ckeln, müs­sen wir das Alt­ein­ge­fah­re­ne hin­ter uns las­sen. Es gibt kei­nen ande­ren Weg.


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