Notwendige Interpretation von komplexen Texten
Die Bibelstellen, die uns gefallen, lassen wir so, wie sie sind. Die Bibelstellen, die uns nicht gefallen, “interpretieren” wir.
Wir interpretieren Texte, wenn diese ohne Weiteres nicht zu verstehen sind. Kann ein Text ohne Interpretation nicht verstanden werden, liegt das stets am Text selbst. Dann ist er entweder umständlich geschrieben oder besitzt einen akademischen, wissenschaftlichen oder philosophischen Charakter.
Bei philosophischen Schriften ist das oft der Fall. Ein gutes Beispiel sind die Bücher von Hegel: Ohne Interpretation und Analyse sind diese so gut wie nicht zu verstehen. Und ob die Interpretation richtig ist, ist noch eine andere Frage. Mehrere Interpretationen desselben Textes können unterschiedliche Ergebnisse liefern.
Selbst profane Texte müssen manchmal interpretiert werden, denn wir formulieren unsere Gedanken mitunter missverständlich oder umständlich. Ob und in welchem Umfang ein Text also interpretationsbedürftig ist, hängt vom Grad seiner allgemeinen Komplexität ab.
Bildnisse und Gleichnisse in der Bibel
Natürlich werden in der Bibel oft Bildnisse benutzt. Wenn beispielsweise in Jesaja 11;1 von einem Reis gesprochen wird, der aus einem Stumpf hervorgeht, weiß jeder, dass kein wirklicher Reis gemeint ist, der aus einem Arm- oder Baumstumpf herauswächst, sondern eine neue Generation von Menschen.
Allgemein gibt es nur wenige rätselhafte Bibelstellen, bei denen wir uns ernsthaft fragen müssen, wie sie gemeint sein könnten. Abgesehen von der oft schwermütigen, umständlichen und altertümlichen Ausdrucksweise, den unnötigen Aufzählungen von Geburtslinien sowie den überladenen Bildnissen, ist die Bibel in Alltagssprache verfasst. Sie besitzt keine Komplexität, die es schwierig macht, sie beim Lesen zu verstehen und nötigt uns auch selten, Sätze mehrmals lesen zu müssen.
Kein philosophischer Kontext
Die Autoren waren keine Philosophen oder Wissenschaftler. Ihre Schriften besitzen keinen akademischen oder intellektuellen Charakter. Eine Vorbildung als Voraussetzung zum Verständnis dieser Erzählungen ist nicht erforderlich. Jeder, der halbwegs gut lesen kann, versteht sie sofort.
Wenn wir trotzdem der Meinung sind, Textstellen wie »… tötet alle, Brüder, Freunde und Verwandte …“ (Zürcher Bibel, Exodus 32;27) müssen interpretiert werden, um richtig verstanden werden zu können, sollten wir uns eingestehen, dass wir Schönfärberei betreibt.
Vor noch 1000 Jahren wäre kaum ein Kleriker auf den Gedanken gekommen, solche Bibelstellen müssten „interpretieren“, also ins richtige Licht gesetzt werden. Man wusste, mit Gott war nicht zu spaßen und wer gegen seine Regeln verstieß, hatte selbstverständlich eine harte Strafe verdient (in der Regel war das der Tod).
Keine Verklausulierung, keine seelische Pein
Die Autoren der Bibeltexte konnten nur das gemeint haben, was sie wörtlich niedergeschrieben haben. Denn zu ihren Lebzeiten war es nicht üblich, Botschaften lyrisch zu verklausuliert, damit nur Eingeweihte sie verstehen und wir heute deshalb gezwungen sind, diese Texte entschlüsseln zu müssen.
Als sie darüber berichteten und davor warnten, dass von Gott Vernichtung oder auch ewige Höllenqualen zu erwarten sind, wenn man seine Gebote missachtet, hatten sie es nicht im symbolischen Sinn gemeint. Sie sprachen von keiner seelischen Pein — im Sinn der modernen Psychologie. Wenn wir ihnen also zwei oder drei Jahrtausende später unterstellen, sie hätten es anders gemeint als so, wie sie es aufgeschrieben haben, sind wir inkonsequent.
Unvollkommenheit ist unmöglich für Gott
Bei der Bibel handelt es sich im Sinn des christlichen Glaubens um die geoffenbarte Wahrheit Gottes. Der Überlieferung nach stammen diese Texte also vom Erschaffer des Universums selbst und wurden in seinem Auftrag von Menschen lediglich niedergeschrieben - also nicht verfasst. Es handelt sich um die Gedanken Gottes.
Als unvollkommene Wesen können unsere Niederschriften naturgemäß nur unvollkommen sein. Hundertprozentige Vollkommenheit kann es für einen Menschen niemals geben. Wir können uns der Vollkommenheit zwar annähern, doch wirkliche Vollkommenheit werden wir nie erreichen.
Bei Gott sollte es jedoch umgekehrt sein: Seine Schriften/Worte können gar nicht unter 100 Prozent fallen. Sind wir als Bibelgläubige also der Meinung, Gottes Wort interpretieren zu müssen, erkennen wir seine Vollkommenheit und nicht an.
Bibelauslegung ist Umdeutung
Interpretieren wir Gottes Schriften, unterstellen wir unserem Schöpfer zumindest formell eine unklare Ausdrucksweise. In Wirklichkeit gefallen uns diese Stellen jedoch einfach nicht — was wir uns jedoch nicht eingestehen wollen.
Darum verändern wir die Bedeutung seiner Worte, legen Gott gewissermaßen unsere Worte in den Mund. Oft machen wir aus einer einfachen Botschaft eine komplexe, beispielsweise wenn wir die von Gott zu verantwortenden Grausamkeiten banalisieren indem wir ihnen einen erzieherischen Sinn unterstellen. Wir nehmen uns das Recht heraus, zu bestimmen, was unser Schöpfer meint, wenn er zu uns spricht, obwohl seine Worte weder missverständlich noch mehrdeutig sind.
Doch wir sollten uns fragen: Warum sollte Gott uns seine vollkommene Botschaft auf verschlüsselte Weise mitteilen? Nirgendwo lässt er schreiben, auch nicht sinngemäß: “Findet selbst raus, was ich mit meinen Worten meine.” Das wäre auch ziemlich seltsam, denn schwer zu verstehen sind sie nicht.
Tabubruch und Widersprüchlichkeit
Für einen echten Bibelgott-Gläubigen sollte eine Exegese also tabu sein. Denn wenn wir als angeblich wahre Christen, Moslems oder Juden Gottes geoffenbarte Wahrheit nicht ernst nehmen, zeigt wir damit, dass es uns in Wirklichkeit um etwas anderes geht, als den Glaube an einen wahren Gott.
Entlarvend ist auch folgende Beobachtung: Das, was uns an Gottes Schriften gefällt, interpretieren wir nicht, sondern lassen es unangetastet. Nur die kontroversen Bibelstellen halten wir für interpretationsbedürftig. Das ist sehr verdächtig. Denn es ist unmöglich, dass ausgerechnet nur die hässlichen Stellen durch Zufall unklar verfasst wurden, die schmeichelhaften jedoch nie.
Sicherlich sind Bibel, Thora und Koran zu 100 Prozent dem menschlichen Verstand entsprungen, also eine Form der Geschichtsschreibung, Fabeln und gesammelten Erzählungen, doch das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Immerhin verstehen viele Christen und Juden (besonders die orthodoxen) und fast alle Muslime ihre Heilige Schriften als tatsächlich von Gott verfasst. Das sollte berücksichtigt werden.
Missbrauch der Heiligen Schriften
Interpretieren wir Gottes Botschaften, bringen wir damit letztendlich unser Desinteresse daran zum Ausdruck. Sie interessiert uns eigentlich nicht, wir benutzen sie nur. Andernfalls würden wir sie nicht umformen, sondern so akzeptieren, wie sie ist.
In Wirklichkeit benutzen wir sie für unsere politischen, sozialen und persönlichen Zwecke, um unsere oft fragwürdigen Handlungen legitimieren zu können. In der Bibel steht nirgendwo, dass sie ausgelegt werden soll, sinngemäß sogar das Gegenteil: „Es darf kein Wort hinzugefügt oder entfernt werden.“ Das tun wir jedoch, wenn wir die Bibel “interpretieren”.
Anpassung und Modernisierung
Ein weiterer Grund für unsere Interpretationswut ist Folgendes: Die Heiligen Schriften wurden in archaischen, antiken und mittelalterlichen Zeiten verfasst und reflektieren deshalb auch das Denken und Fühlen dieser Epochen. Der Gott dieser Zeiten ist ziemlich grausam und kriegerisch. Das passt nicht mehr zu unserem heutigen Gottesbild, denn inzwischen haben unsere moralischen und intellektuellen Werte sich geändert: Wir denken nicht mehr so primitiv, wie in der Bronzezeit.
In jedem Jahrhundert oder in jeder Epoche werden und wurden die Heiligen Schriften mittels Interpretation der vorherrschenden Zeit angepasst, damit sie weiterhin als unantastbare moralische Instanzen fungieren können.
Mit der Kirche ist auch so: Sie modernisiert sich in unregelmäßigen Abständen minimal, denn sonst laufen ihr die Mitglieder weg. Aus dem gleichen Grund modernisieren wir unser Verständnis von der Bibel. Nur sprechen wir dann von Interpretation, in Wirklichkeit handelt es sich um eine Anpassung durch Umdeutung.
Inkonsequenz und Erkenntnisschutz
Unsere Bibelauslegungen sind nur ein weiteres Indiz für unsere in mehr oder weniger allen Lebensbereichen vorhandene Inkonsequenz. Wir pflegen und verteidigen nicht nur unsere Religionen, die dem beschränkten Geist unserer archaischen Vorfahren entsprungen sind. Auch andere, uralte Traditionen und Bräuche halten wir am Leben, obwohl sie schon längst ihren Sinn verloren haben.
Unsere Bibelinterpretationen sollen uns vor der Erkenntnis schützen, dass wir aus Tradition an Dinge glauben, die wir sonst nicht ernst nehmen könnten.
Ich verzweifle fast an den Religionen manchmal mehr, manchmal weniger, heute sehr.
Aus Mitleid, weil ich keinen Fernseher angeschlossen habe, schickte mir gestern ein Journalist seinen ziemlich begeisterten Bericht über den gerade zu Ende gegangenen ökumenischen Gottesdienst in Wittenberg.
Die leitenden Geistlichen Marx und Bedform ‑Strom waren in letzter Zeit von nicht nachdenklichen Leuten kritisiert worden, weil sie kürzlich ihre um die Hälse gehängten Kreuze vor der berühmtesten muslimischen Gebetsstätte in Jerusalem abgelegt hatten.
Also demonstrierten beide Bischöfe gestern doppelt gründlich mit ihrem Kreuz, obwohl es in unserer Zeit doch kaum jemanden gibt, der sich nicht fragt:
Was ist das nur für ein blutrünstiger Monstergott, der zum Verzeihen den Foltertod seines selber körperlich gezeugten Sohnes unbedingt braucht, prima findet und diejenigen verdammt, die dies Geschäft als Unwahrheit sehen, keine Kruzifixe in ihren Häusern aufhängen, weil sie dies auch nicht mit dem Polizeifoto tun möchten, das ihr ermordetes blutendes Kind zeigt.
demonstrierten sie gestern doppelt stark mit dem Kreuz.