Talentlosigkeit
Als Rassisten leiden wir wahrscheinlich unbewusst unter unserer Unfähigkeit zur Kreativität. Wir besitzen keine Talente, die auf Fantasie, Inspiration oder Vorstellungskraft beruhen. Diese Mangel ist uns nicht bewusst. Deshalb suchen wir die Ursache unserer Bedeutungslosigkeit woanders: vorzugsweise bei fremden Menschen. Wir wissen nicht, dass wir nur deshalb erfolglos im Leben und der Gesellschaft sind, weil uns die Fähigkeiten fehlen, die in einer Leistungsgesellschaft wichtig sind — selbst wenn es nur Fleiß, Ausdauer oder Bescheidenheit ist.
Talent- und Inspirationslosigkeit machen natürlich niemanden zum Rassisten und Gewalttäter. Erfolglos sind viele Menschen im Leben und viele leiden still darunter oder auch nicht.
Als talentlose Menschen können wir jedoch zu Rassisten werden, wenn wir zusätzlich und ganz allgemein Menschen nicht mögen, was einschließt, vielleicht sogar voraussetzt, uns selbst nicht zu mögen (wir mögen das »Dasein« als solches nicht). Da wir uns das nicht eingestehen können (denn das würde einen Erkenntnisprozess in Gang setzten, zu dem wir nicht bereit sind), empfinden wir unseren Rassismus nicht als Menschenhass, sondern als natürliche Abneigung gegen alles Fremde.
Um nicht sagen zu müssen „Ich bin ein Menschenhasser, weil ich vom Leben frustriert bin und anderen ihr Glück nicht gönne“, erfinden wir die Legende vom »Volksfeind«, »Parasiten« etc. Diese künstliche Gruppe machen wir dann indirekt oder direkt für unsere Erfolglosigkeit verantwortlich. Das gibt uns die Legitimation, Menschen, die anders sind als wir, mit brutaler Gewalt zu „bekämpfen“. Andere Möglichkeiten zum Umgang mit unserer Erfolglosigkeit kennen wir nicht.
Wenn wir in der Gesellschaft nichts erreichen können, weil wir untalentiert sind, können wir trotzdem Erfolgserlebnisse haben, indem er anderen Menschen Gewalt antut. Das ist einfach und setzt keine besonderen Fähigkeiten voraus.
Gäbe es keine Ausländer, Juden, Schwarze oder Homosexuelle, fänden wir als Rassisten oder Faschisten schell eine andere Bevölkerungsgruppe, um gegen diese mit brutaler Gewalt vorzugehen. Gäbe es auch diese Gruppe nicht mehr, fänden wir schnell eine Feindgruppe innerhalb unserer eigenen.
Schlechtes Deutsch in Wort und Schrift
Bei der Betrachtung des Rassismus-Komplexes fällt ein weiterer Aspekt auf: Als Neonazis, Rassisten bzw. deutsche Verschwörungsaufdecker ganz allgemein, schreiben wir meistens ein schlechtes Deutsch (Ausnahmen gibt es natürlich schon). Wir können uns selten gut artikulieren und sind kaum fähig, halbwegs fehlerfreie und verständliche Sätze zu formulieren.
Das ist selbstverständlich nichts Schlimmes. Es ist nicht nötig, die eigene Muttersprache gut zu beherrschen, um beispielsweise logisch denken zu können. Wer jedoch besonders viel Wert auf seine Nationalität legt, dem sollte auch die eigene Sprache viel bedeuten, denn diese ist ein wichtiges Kernelement einer jeden nationalen Identität. Doch seltsamerweise schreiben ausgerechnet die deutschesten der Deutschen ein schlechtes Deutsch. Was könnte für diesen eklatanten Widerspruch verantwortlich sein? Folgende Überlegung bietet sich an:
Je geringer unser Bildungsniveau und unsere intellektuellen Fähigkeiten sind, desto attraktiver finden wir „einfache“ Lösungsansätze, denn diese verstehen wir.
Weil wir aufgrund unserer mangelhaften geistigen Fähigkeiten keine komplexen Sachinhalte nachvollziehen können, gefallen uns die rechtskonservativen Gedanken, denn diese sind nicht anspruchsvoll. Außerdem gibt es einen interessanten Effekt, der durch mangelhafte Bildung entstehen kann. Ich nenne ihn das »Bildungsdefizitsyndrom«: Je weniger wir wissen, desto eher haben wir den Eindruck viel zu wissen. Dann glauben wir den Durchblick zu haben, denn unsere Defizite sind uns nicht bekannt. Wenn wir nicht wissen, dass wir nichts wissen, halten wir uns vielleicht für wissend. Dann empfinden wir menschenfeindliche Ideologien möglicherweise attraktiv und haben Hass auf all die Leute, die das können oder besitzen, was uns aufgrund unserer mangelhaften Fähigkeiten nicht möglich ist. Wir sublimieren unseren Neid und verwandeln ihn in Hass.
Kein Abstraktionsvermögen
Ein Beispiel ist das Unverständnis der Nationalsozialisten für die abstrakte und impressionistische Kunst. Kunst wurde von den Nazis zur Zeit des Nationalsozialismus nur dann akzeptiert, wenn der Künstler über das handwerkliche Können verfügte, das für die gegenständliche Malerei und Bildhauerei nötig ist.
Zweifellos ist es schwierig, gegenständlich oder sogar fotorealistisch zu malen. Wir müssen es erst lernen und je nach Talent kann es lange dauern, bis wir es gut können. Doch letztendlich ist diese Art des Malens ein Handwerk, das jeder lernen kann – ausgenommen man ist absolut unbegabt. In der gegenständlichen Malerei werden Objekte abgebildet, der Maler muss nicht mehr können, als das, was er sieht, möglichst naturgetreu auf die Leinwand zu bringen, und dafür gibt es erlernbare Techniken. Der Künstler braucht weder Vorstellungskraft noch Inspiration. Beides kann bei der gegenständlichen Malerei sogar hinderlich sein.
In der abstrakten oder impressionistischen Malerei ist es hingegen anders. Dort benötigt der Künstler sehr wohl Inspiration, Fantasie, Visionen und besonders ein abstraktes Vorstellungsvermögen.
Der gegenständliche Maler bildet das ab, was er mit seinen Augen sieht. Er hat im übertragenen Sinn die Funktion eines Fotoapparates. Seine Kunst besitzt einen mechanischen Charakter. Der abstrakt malende Künstler hingegen orientiert sich (wenn überhaupt), nur grob an einer Vorlage. Er malt das, was er in seinem Inneren sieht oder wahrnimmt. Das meiste, was er auf die Leinwand bringt, entspringt seiner Fantasie und Inspiration. Besitzt er beides nicht, haben seine Werke selten Ausstrahlungskraft. Sie werden dem Betrachter nicht viel sagen und nur Linien, Figuren und Flächen sein, die vielleicht schön anzusehen sind — mehr jedoch nicht. Besitzt er hingegen ein reiches Innenleben, können seine Werke sehr beeindrucken und neue Assoziationen, Gedanken und Gefühlen hervorbringen.
Erschließung neuer Dimensionen
Bevor Picasso abstrakt malte, malte er bereits sehr gut gegenständlich. Gleiches gilt für viele andere Künstler, die sich der Abstraktion verschrieben haben. Wer abstrakt malt, tut das also nicht, weil er zur gegenständlichen Malerei unfähig ist. Sie genügt ihm lediglich nicht mehr! Aus diesem Grund überschreiten manche Künstler die gegenständliche Malerei und erweitert sie durch zusätzliche Dimensionen. Dimensionen einer Welt, die dem rassistisch-faschistischen Gemüt unbekannt sind: Assoziationen, Vorstellungen, Gedanken, freundliche Gefühle, neue Ideen, spielerische Neugier, Fantasie und Ähnliches mehr.
Da wir als Rassisten (Neonazis, Faschisten oder Lebenshasser) ein Seelenleben haben, das über die Alltagsanforderungen nicht hinausgeht, können wir mit dieser Kunst nichts anfangen. Wir stehen einer Herausforderung gegenüber, der wir nicht gewachsen sind. Dadurch fühlen wir uns (bewusst oder unbewusst) herabgewürdigt denn wir ahnen, dass dort etwas ist, das unseren geistigen Horizont überschreitet.
Aus diesem Grund empfanden die Nationalsozialisten die moderne Kunst als Angriff auf ihr Selbstwertgefühl. (Das galt übrigens nicht unbedingt für die Elite der Nationalsozialisten im sogenannten Dritten Reich. Goebbels wusste die abstrakte Kunst schon zu schätzen. Nur aus populistischen Gründen hatte er sie verdammt.)
Ähnlich verhält es sich bei der Literatur. Einerseits fühlten sich die Nazis, als sie Bücher verbrannten, von diesen entlarvt. Sie waren gezwungen, diese Literatur zu vernichten. Andererseits besaßen diese Werke in vielen Fällen ein intellektuelles Niveau, dem sie nicht gewachsen waren — was sie spürten. Und um die Tatsache ihrer eigenen intellektuellen Beschränkung zu kaschieren, vernichteten sie diese: „Was ich nicht verstehe, hat keinen Sinn, also schaffe ich es aus der Welt“, war die Devise.
Schlussgedanken
Woran liegt es also, dass manche Menschen ihr Selbstwertgefühl erhöhen, indem sie andere erniedrigen? Meins ist auch nicht besonders hoch, doch der Gedanke, es zu erhöhen, indem ich andere erniedrige, käme mir selbst im Traum nicht. Ich wüsste gar nicht, wie das funktionieren könnte. Das Gegenteil ist der Fall: Erfährt ein anderer Mensch (egal, ob er mir sympathisch ist oder nicht) durch mein Tun eine Beeinträchtigung oder ein Leid, fühle ich mich nicht besser, sondern schlechter. Geht es einem anderen Mensch durch mein Tun besser, geht es auch mir besser!
Als Rassisten, Faschisten oder Menschenhasser empfinden wir jedoch anders: Uns scheint es gut zu gehen, wenn es anderen (besonders Menschen, die wir nicht mögen) schlecht geht.
Als Rassisten (alternativ: Ethnizisten), Faschisten und Menschenhasser wissen wir nicht, was es bedeutet, sich wirklich gut zu fühlt. Es ist nur eine Vermutung und vielleicht auch eine Unterstellung, doch ich behaupte: Die wichtigsten Grundgefühle, von denen wir als Rassisten beherrscht werden, sind unbewusster Neid, falsch verstandene Frustration und ordinäre Unlust oder Faulheit.
Da wir mit diesen Gefühlen nicht umzugehen wissen und ihren Ursprung nicht kennen, empfinden wir Hass auf all die Menschen, die Fähigkeiten besitzen, die uns selbst fremd sind: Großzügigkeit, Zuversicht und kreativer Tatendrang. Und dieser Hass findet das einzige Ventil, das uns zur Verfügung steht: Gewalt gehen fremde Menschen. Rassismus ist daher die primitivste Form der Kompensation eines Minderwertigkeitsgefühls.