Das Leben ist ein Jam­mer­tal


Eine Stadt in der alle Straßen und Plätze mit schneckenartigen Raupen, so groß wie ein großer Elefant, voll sind. Drumherum laufen Menschen umher.

Unser Leben, unser Leid

Leid ist ein fes­ter Bestand­teil des Lebens. Wir haben gelernt, uns damit zu arran­gie­ren und abzu­fin­den. Es gibt ver­schie­de­ne Arten Leid: Mit dem Leid, das Natur­ka­ta­stro­phen, Unfäl­le oder Krank­hei­ten erzeu­gen, müs­sen wir leben und kön­nen nur ver­su­chen, es zu redu­zie­ren und aus­zu­gren­zen. Man könn­te es als »natür­li­ches Leid« bezeich­nen.

Eine ande­re Art ist das „selbst gemach­te“, von Men­schen erzeugt Leid. Es ist im Gegen­satz zum natür­li­chen ver­meid­bar. Beim men­schen­ge­mach­ten Leid han­delt es sich meis­tens um Leid, das Men­schen ande­ren Men­schen zufü­gen. Ich bezeich­ne es des­halb als »künst­li­ches Leid«.

Selbst gemacht und schick­sal­haft

Men­schen nut­zen bei Bedarf die Not­la­ge ande­rer Men­schen aus. Wir betrü­gen, belü­gen, hin­ter­ge­hen und besteh­len uns gegen­sei­tig. Wir ver­ge­wal­ti­gen auch, mor­den, ver­let­zen und demü­ti­gen ande­re Men­schen, um uns an ihrem Schmerz zu ergöt­zen. All das erzeugt jede Men­ge Leid. Lei­der­zeu­gung bei ande­ren Men­schen ist für uns oft eine Metho­de zur eige­nen Leid­min­de­rung.

Indem wir ande­ren Men­schen schlim­me Din­ge antun, len­ken wir uns von unse­rem eige­nen Leid ab: Uns geht es viel­leicht nicht gut, aber wir besit­zen die Macht, es ande­ren Men­schen noch schlech­ter gehen zu las­sen. Das rela­ti­viert unser eige­nes Leid.

Es gibt noch eine wei­te­re, eher sub­ti­le Form des Lei­des: das schick­sal­haf­te Leid. Es ist abhän­gig von unse­ren per­sön­li­chen Dis­po­si­tio­nen und Erwar­tun­gen. Ganz all­ge­mein kön­nen wir unter unse­rer Lebens­si­tua­ti­on lei­den, je nach­dem, wel­che Erwar­tun­gen wir vom Leben haben. In schwa­cher Form kennt das fast jeder, bei­spiels­wei­se Situa­tio­nen, mit denen man sich abfin­den muss und die eige­ne Macht­lo­sig­keit spürt.

Die Ver­drän­gung des Schick­sal­haf­ten Lei­des

Wir alle stre­ben ein Leben an, das mög­lichst vie­le Annehm­lich­kei­ten beinhal­tet. Anders aus­ge­drückt: Wir ver­su­chen, mög­lichst vie­le Unan­nehm­lich­kei­ten zu ver­mei­den. Nie­mand will hun­gern, frie­ren, Schmer­zen haben oder krank sein. Nie­mand will allei­ne, trau­rig und ver­zwei­felt sein. Nie­mand will ein Leben, das aus Angst und Stress besteht. Daher tun wir alles, was geeig­net ist, die­se unan­ge­neh­men Zustän­de zu min­dern oder sogar in ihr Gegen­teil umzu­wan­deln – selbst dann, wenn das nur durch Lei­der­zeu­gung bei ande­ren mög­lich ist.

Gelingt uns das gut, haben wir tat­säch­lich ein Leben mit wenig Schmerz, Krank­heit und Leid. Aber auch dann stirbt plötz­lich ein gelieb­ter Mensch, wir wer­den von einem Freund bit­ter ent­täuscht oder fin­den ein­fach kei­nen Part­ner mit dem wir unser Leben tei­len kön­nen. Abso­lu­te Leid­lo­sig­keit wird es für einen Men­schen nie­mals geben.

Des­il­lu­sio­nie­rung

Leid und Leid erzeu­gen­de Umstän­de sind also natür­li­che Begleit­erschei­nun­gen eines jeden Men­schen. In unse­rer Kind­heit und Jugend sind wir bei­spiels­wei­se noch sehr naiv und pfle­gen idea­lis­ti­sche Vor­stel­lun­gen von unse­rem spä­te­ren Leben als Erwach­se­ne. Doch kaum haben wir unse­re Ado­les­zenz hin­ter uns, wer­den wir von der nüch­ter­nen Rea­li­tät des All­tags ein­ge­holt und des­il­lu­sio­niert.

Schnell ler­nen wir, dass uns nichts geschenkt wird und wir uns unser Glück erkämp­fen, erkau­fen oder auch erschum­meln müs­sen. Kom­pro­mis­se sind nötig, damit unser Leben wenigs­tens halb­wegs so ist, wie wir es uns wün­schen. Meis­tens blei­ben dabei von unse­ren ursprüng­li­chen Idea­len nicht viel übrig. Die­se Ver­lus­te kom­pen­sie­ren wir in unse­ren Tag­träu­men und Fan­ta­sien.


Eine meschanische Schnecke mit einem Haus auf dem Rücken, wie eine futuristische Metropole, gleitet auf schienenähnlichen Gleisen durch eine Landschaft.
Drumherum wimmelt es von kleinen Käfern, die wie Schnecken Augen auf Stielen haben.

Kom­pro­miss und Gewöh­nung

Den ers­ten gro­ßen Kom­pro­miss bege­hen wir oft bei unse­rer Part­ner­wahl. Nor­ma­ler­wei­se wol­len wir nicht allei­ne durchs Leben gehen, und da es unse­ren Wunsch­part­ner nur sel­ten gibt, neh­men wir schließ­lich den, den wir krie­gen kön­nen. Haupt­sa­che, wir haben einen (Ehe­mann, Ehe­frau, Freund, Freun­din) und müs­sen nicht Abend für Abend, Jahr für Jahr allei­ne in unse­rer Woh­nung vor dem Fern­se­her sit­zen.

Frau­en ler­nen schnell zu akzep­tie­ren, dass ihr Mann sie eigent­lich nur gehei­ra­tet hat, damit sei­ne Wäsche gewa­schen wird, ihm etwas zu essen gekocht wird und er eine Frau fürs Bett hat, wann immer ihm danach ist. Sie wol­len nicht allein sein, brau­chen ein Dach über dem Kopf und eine gewis­se mate­ri­el­le und sozia­le Absi­che­rung.
Dafür neh­men sie in Kauf, mit­un­ter gede­mü­tigt und aus­ge­nutzt zu wer­den, denn die Alter­na­ti­ve (allein und schutz­los in einer män­ner­do­mi­nier­ten Welt leben zu müs­sen) ist schlim­mer als ein unsen­si­bler, gleich­gül­ti­ger, besof­fe­ner, fremd­ge­hen­der oder auch des­po­ti­scher Ehe­mann. Dar­an kann man sich gewöh­nen und ler­nen, damit umzu­ge­hen.

Dem Mann sind die Grün­de, aus denen sei­ne Frau ihn gehei­ra­tet hat, eigent­lich egal. Er könn­te gut allei­ne zurecht­kom­men, aller­dings möch­te er nicht auf die Vor­tei­le ver­zich­ten, die eine Ehe mit sich bringt: kos­ten­lo­se Putz­frau, kos­ten­lo­se Köchin und kos­ten­lo­ser Geschlechts­ver­kehr. Nicht alle Ehen sind so – vie­le jedoch schon.

Authen­ti­zi­tät ist kaum mög­lich

Aber nicht nur unse­re Part­ner­schaf­ten bestehen zu gro­ßen Tei­len aus Kom­pro­mis­sen. Auch in ande­ren Lebens­be­rei­chen beu­gen wir uns aus Macht­lo­sig­keit den Not­wen­dig­kei­ten.
So wäh­len wir sel­ten den Beruf, den wir ursprüng­lich aus­üben woll­ten. Denn meis­tens geht es nicht dar­um, einen Beruf zu haben, der unse­ren Fähig­kei­ten und Inter­es­sen ent­spricht. Einen sol­chen hät­ten wir natür­lich gern, doch wir sind auch gezwun­gen, mit unse­ren Beru­fen das Geld zu ver­die­nen, das wir zum täg­li­chen Leben drin­gend brau­chen.

Unse­re Beru­fe sind daher meis­tens nur Jobs, letzt­end­lich belie­bi­ge Tätig­kei­ten, die wir nur wegen der Bezah­lung tun. Die Tätig­kei­ten selbst inter­es­siert uns nicht, denn um sie aus­zu­üben, ist das unnö­tig.

Anpas­sung und Kon­di­tio­nie­rung

Wir alle wur­den von Kind­heit an kon­di­tio­niert, kein ech­tes Inter­es­se an Selbst­be­stimmt­heit und Authen­ti­zi­tät zu ent­wi­ckeln. Oft wis­sen wir noch nicht ein­mal, was das ist.

Wir haben nur gelernt, uns den gesell­schaft­li­chen Zwän­gen oder Kon­ven­tio­nen anzu­pas­sen – aus unter­schied­li­chen Grün­den. Der wich­tigs­te ist viel­leicht unser Bestre­ben, mög­lichst rei­bungs­los durchs Leben zu kom­men. Wird von uns bei­spiels­wei­se erwar­tet, einen bestimm­ten Klei­dungs­ko­dex ein­zu­hal­ten, tun wir das, selbst wenn wir ihn nicht mögen. So funk­tio­niert das gesell­schaft­li­che Zusam­men­le­ben: Wir pas­sen uns an, indem wir so tun, als ob. Wir lächeln, obwohl uns eigent­lich zum Heu­len ist.

Selbst­täu­schung ersetzt Krea­ti­vi­tät

Nie­mand darf von unse­rer per­ma­nen­ten Unzu­frie­den­heit wis­sen, des­halb ver­ber­gen wir sie auch vor uns selbst. Wir tun so, als wären alles in Ord­nung, denn nie­mand gibt ger­ne zu, des­il­lu­sio­niert zu sein. Also ver­su­chen wir aus der Not eine Tugend zu machen, doch im Ver­bor­ge­nen lei­den wir – viel­leicht ohne es zu wis­sen.
Wir haben uns an unser Leid gewöhnt und gelernt, uns damit zu arran­gie­ren. Und solan­ge es uns rela­tiv gut geht (wir also wis­sen, dass es ande­ren noch schlech­ter geht), sind wir mehr oder weni­ger zufrie­den. Doch es ist eine durch Betäu­bung erzeug­te Zufrie­den­heit.

Die­se schein­ba­re Zufrie­den­heit ist eine „Leid­ver­mei­dungs­tech­nik“, die wir alle instink­tiv beherr­schen und mit der wir uns dar­über hin­weg­täu­schen, dass unser Leben eigent­lich eine Kata­stro­phe ist, ver­gli­chen mit dem, was es sein könn­te: ein Leben vol­ler Krea­ti­vi­tät, durch­drun­gen von Freu­de und inspi­riert durch Fan­ta­sie. Statt­des­sen träu­men wir nur davon, leben­dig zu sein.


Ersatz­er­fol­ge

Eine Frau und ein Mann mit Büchern in den Händen, fliehen aus einem Kampfgebiet neben einem antiken Tempel. Am Horizont bricht ein Vulkan auf.

In Mil­lio­nen Woh­nun­gen sit­zen Mil­lio­nen Men­schen, und jeder erin­nert sich heim­lich an eine glor­rei­che Ver­gan­gen­heit, die es nie gege­ben hat. (Ver­fas­ser unbe­kannt)

Um unser ent­täu­schen­des Leben lebens­lang ertra­gen zu kön­nen, pfle­gen vie­le von uns eine gehei­me Tag­traum­welt. Nie­mand außer uns weiß davon, denn sie ist sehr per­sön­lich. Wüss­ten ande­re davon, wäre uns das pein­lich, denn die­se Fan­ta­sie besitzt oft einen infan­ti­len Cha­rak­ter. Des­we­gen ver­ste­cken wir sie.

In die­ser gehei­men, ima­gi­nier­ten Welt haben wir ein ande­res, alter­na­ti­ves Leben, meis­tens in der Ver­gan­gen­heit, sel­ten in der Gegen­wart oder Zukunft, da die­se sich dafür nicht gut eig­net. Dort ver­wirk­li­chen wir uns auf die Art, die uns in der rea­len Welt ver­wehrt ist. Wir sind viel­leicht erfolg­rei­che Sport­ler oder Sport­le­rin­nen, Künst­ler, Musi­ke­rin­nen, Schau­spie­ler, Wis­sen­schaft­le­rin­nen, Hel­den oder etwas ande­res, das uns gefällt.

In die­ser Tag­traum­welt erzeu­gen wir in uns die Gefüh­le, die man hat, wenn man etwas Bedeu­ten­des dar­stellt oder geschaf­fen hat.

Der see­li­sche Pla­ce­bo­ef­fekt

Die­se Tag­traum­welt dient nicht nur als Unter­hal­tung oder Ablen­kung vom All­tag. Wich­tig ist auch ihr Pla­ce­bo­ef­fekt: Er erzeugt in uns ein Gefühl der Befrie­di­gung oder Genug­tu­ung auf­grund der Aner­ken­nung für eine beson­de­re Leis­tung.

Die­ses Gefühl brau­chen wir alle – die einen mehr, die ande­ren wei­ni­ger. Haben wir die­ses Gefühl, die­se inne­re Befrie­di­gung, nicht auf­grund rea­ler erbrach­ter Leis­tun­gen, ima­gi­nie­ren wir es uns mit die­ser Tag­traum­welt-Tech­nik.

Die­ses künst­li­che Erfolgs­er­leb­nis stärkt unser »sozi­al-see­li­sches Immun­sys­tem«. Wir erin­nern uns zwar nicht an wirk­li­che Erfolgs­er­leb­nis­se, aber wir konn­ten das Gefühl davon genie­ßen. Und unse­rer sozia­len Psy­che ist es egal, wie unse­re Gefüh­le ent­stan­den sind.


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