Glauben ist Ersatzwissen
Glauben wir an etwas, machen wir eine Annahme, vermuten etwas oder vertrauen auf das, was nicht bewiesen werden kann. Oder wir betrachten eine Tatsache von gestern heute immer noch als gegeben, obwohl wir das gar nicht richtig wissen können. Wir sind von etwas überzeugt, obwohl es nicht beweisbar ist.
Diese Überzeugung muss nicht auf religiöse oder spirituelle Inhalte bezogen sein. Sie kann auch einen banalen Alltagshintergrund besitzen, wie der Glaube an die Treue des Partners, dass wir morgen unseren Job noch haben oder unser Auto in der nächsten Stunde keinen Motorschaden hat. Denn nichts davon wissen wir definitiv.
Praktisch betrachtet unterscheiden Alltagsglaube und religiöser Glaube sich nicht voneinander. In beiden Fällen handelt es sich um Spekulationen, unabhängig von Art und Höhe des Wahrscheinlichkeitsgrades. Der Alltagsglaube hat jedoch einen weltlichen Hintergrund (Job, Partner, Auto), der religiöse einen mythologischen oder überlieferten. Der Alltagsglaube hat viel mit Mutmaßungen und Wahrscheinlichkeiten zu tun, der religiöse eher mit Hoffnungen, Wünschen und Ängsten.
Stabilitätsfaktoren und Orientierungshilfen
Unser Alltagsglaube hilft uns besser einschätzen zu können, wie wir uns in unsicheren Situationen verhalten sollen. Den religiösen Glauben benutzen wir, um die Tristheit und Trostlosigkeit des Alltagslebens besser auszuhalten.
Unser religiöser Glaube ist zwar nur eine überlieferte Tradition, die wir in unserer Kindheit (einer Lebensphase, in der wir leicht manipulierbar sind) unreflektiert übernehmen. Egal, welchen Glauben man uns lehrt (christlich, jüdisch, moslemisch, hinduistisch, buddhistisch usw.), wir werden ihn annehmen(!), denn als Kinder, die von ihren Eltern abhängig sind, haben wir keine andere Wahl.
Allmähliche Gewöhnung und Wertschätzung
Doch da unser Leben zu großen Teilen aus Anstrengung, Leid, Arbeit und Entbehrung besteht, gefällt uns die Idee einer übergeordneten Sinngebung, auch wenn wir sie vielleicht nicht wirklich ernst nehmen. Deswegen fungiert unser religiöser Glaube als Stabilitätsfaktor und ist noch dringend nötig, um unsere mit Widersprüchen durchzogenen Gesellschaften nicht auseinanderfallen zu lassen.
Grenzen des Glaubens
Wenn wir über bestimmte existenzielle Aspekte des Lebens nichts wissen, weil es unmöglich ist, darüber etwas wissen zu können, erzeugt dieser Umstand in vielen von uns Unzufriedenheit oder eine unterschwellige Unruhe, ein Unbehagen, dass auch Angst machen kann.
Wir stoßen auf unsere intellektuellen oder geistigen Grenzen und werden mit der Tatsache konfrontiert, dass es Dinge gibt, die sich unserer Wahrnehmung entziehen. Das frustriert uns – bewusst oder unbewusst – denn das Unbekannte können wir nicht beeinflussen oder kontrollieren.
Dieser Kontrollverlust kann unser Selbstwertgefühl bedrohen. Er bedeutet, nicht in allen Belangen des Lebens souverän sein zu können. Wollen oder können wir uns mit dieser Einschränkung nicht abfinden, neigen wir dazu, diese Wissenslücke mit Ersatzwissen zu überdecken.
Glaubenssysteme, Utopien und Esoterik
Dabei kommt es nicht darauf an, ob dieses Ersatzwissen (oder auch Scheinwissen) einem wirklichen Wissen ebenbürtig ist. Es soll uns lediglich vergessen lassen, dass es in der Welt Dinge gibt, die sich unserer Wahrnehmung und Einflussnahme entziehen.
Glaubenssysteme als solche müssen jedoch keine religiösen oder spirituellen Hintergründe haben. Politische Ideologien und Utopien sind auch akzeptabel. Wer nicht an das Jenseits, Gott oder Engel glauben kann, der glaubt vielleicht an die Wissenschaft, den Kommunismus, den Nationalismus oder irgendeiner Verschwörungstheorie. Irgendetwas findet sich immer.
Manche dieser Utopien oder Fantasien sind in der Zukunft oder alternativen Welten angesiedelt, denn mit unseren Glauben wollen wir uns von der Gegenwart (also dem tatsächlichen Leben in der Realität) ablenken.
Glauben: eine höhere Art des Wissens
Da es sich in all diesen Fällen um kein wirkliches Wissen handelt – denn das basiert stets auf beobachtbare und beschreibbare Tatsachen – und wir uns unwohl mit diesem Manko fühlen, etikettieren wir unseren religiösen Glauben als metaphysisches oder gefühltes Wissen und unseren anti-religiösen als Rationalwissen oder einfach als Wissenschaft.
Wir behandeln unseren Glauben als eine höhere Priorität des Wissens, als »apriorische Wahrheit«, die einen Beweis oder eine Überprüfung deshalb nicht benötigt. Das macht ihn immun gegen jede Art Kritik. Und deswegen fällt es uns so leicht, all das zu glauben, was uns hilft, unsere innere Unruhe und unseren dumpfe Unmut zu bekämpfen.
Wir müssen nur an etwas glauben und davon überzeugt sein – und schon sind Unruhe und Unmute verschwunden. Doch in Wirklichkeit haben wir sie nur betäubt.
Hallo Michael,
coole Seite von dir. Was mich bzgl. dem Thema Glauben zur Zeit interessiert ist eine Antwort auf die Frage: Kann man aus dem Nichtglauben an eine Lehre eine Schlussfolgerung ziehen? Würde gerne deine Meinung bzw. Herleitung zu dem Thema wissen. Danke
Hallo Muc
Danke für deine interessante Frage, die mich zu folgenden Gedanken animiert hat.
Frage: Kann man aus dem Nichtglauben an eine Lehre eine Schlussfolgerung ziehen?
Zunächst:
Lehren vermitteln Wissen, Erfahrungen, Erkenntnisse, Philosophien und Ideen. Diese können ganz oder teilweise richtig oder falsch sein. Eine Lehre, die zumindest in ihrem Kern richtig ist, wird auch unser Denken und Leben besser, zukunftstauglicher und kreativer machen. Eine Lehre, die in ihrem Kern nicht richtig ist, besitzt diese Eigenschaft nicht – höchstens zufällig oder über Umwege: Manchmal verfolgen wir ohne es zu wissen eine falsche Idee, die dann doch zum richtigen Ziel führt. Eine Formel oder Handlungsweise kann zwar falsch sein, doch indem wir sie bis zu Ende denken, erkennen wir neue und weiterführende Aspekte unserer ursprünglichen Fragestellung.
Meistens verlassen wir den Pfad unserer falschen Ideen jedoch nicht und halten ein Leben lang an ihnen fest. Deswegen ist es sinnvoll zwischen rationalen und irrationalen Lehren zu unterscheiden. Beide haben ihre Berechtigung. Die irrationalen können jedoch destruktive Auswirkungen haben (im Sinn einer Irrlehre) und sollten deshalb gesondert behandelt und kritisch betrachtet werden.
Die Antwort auf die Frage nach der Schlussfolgerung muss deshalb in zwei Teile aufgesplittet werden:
Der „Nichtglauben“ an rationale Lehren (beispielsweise Naturwissenschaften) könnte als Verweigerung modernen Wissens bezeichnet werden, der Nichtglauben an irrationale Lehren (beispielsweise Religion) als die Loslösung von den überlieferten Assoziationen unserer archaischen Vorfahren und als Voraussetzung für einen offenen Blick für die Anforderungen einer modernen, zukünftigen Welt.
Das ist jedenfalls das, was mir auf die Schnelle zu diesem Thema einfällt.