Star­res Den­ken


Ein Teich ohne Zufluss und Abfluss, stehendes Wasser.

Die Erstar­rung auf­lö­sen

Unser Den­ken ist kein Fluss, son­dern nur ein Teich ohne Zu- und Abfluss.

Es heißt ja oft, das Leben ist ein Fluss. Und da unser Den­ken ein Teil des Lebens ist, soll­te es eben­falls flie­ßen, sich bewe­gen und wei­ter­ent­wi­ckeln. Doch meis­tens ändern wir als Erwach­se­ne unse­re in unse­rer Kind­heit und Jugend erwor­be­nen Mei­nun­gen und Lebens­ein­stel­lun­gen nur unwe­sent­lich oder sogar gar nicht. Es fin­det kei­ne Wei­ter­ent­wick­lung, son­dern nur eine Fes­ti­gung statt.

Um bei die­sem Bild zu blei­ben: Ein Gewäs­ser ohne Zu- und Abfluss wird frü­her oder spä­ter zu einem Tüm­pel – in schlim­men Fäl­len sogar zu einem stin­ken­den Tüm­pel. Und unse­rem Denk­ap­pa­rat geht es nicht anders, wenn er sich nicht hin und wie­der auf­frischt und das Ver­al­te­te über Bord wirft: Er wird faul und dege­ne­riert mit der Zeit. Es ist wie bei der soge­nann­ten Rein­ras­sig­keit oder der Selbst­re­pro­duk­ti­on: Ohne neue Impul­se (neue Gen­in­for­ma­tio­nen) enden bei­de in der Sta­gna­ti­on oder gehen sogar ein.

Gene­ra­tio­nen­wech­sel der Gedan­ken

Eine Gene­ra­ti­on soll­te daher stets eine Wei­ter­ent­wick­lung der vor­an­ge­gan­ge­nen sein, auch wenn der Unter­schied nur klein ist. Doch oft sind unse­re Gedan­ken und Mei­nun­gen nur Klo­ne oder Kopien, die wir von unse­ren Eltern und Leh­rer über­nom­men haben. Ändert sich unser Den­ken doch ein­mal, dann meis­tens nur nach dem Prin­zip der zufäl­li­gen Muta­ti­on. Das ist natür­lich gut, doch in Zukunft wird die­ser Mecha­nis­mus nicht mehr aus­rei­chen.

Des­we­gen müs­sen wir ler­nen, unse­ren „Denk­ap­pa­rat“ bewuss­ter und ver­ant­wort­li­cher ein­zu­set­zen. Die Vor­aus­set­zung dafür: Wir müs­sen an uns selbst als Mensch inter­es­siert sein. Lei­der ist uns die Tat­sa­che, dass wir den­ken­de, mit Bewusst­sein und Wahr­neh­mung aus­ge­stat­te­tes Lebe­we­sen sind, meis­tens mehr oder weni­ger egal. Statt­des­sen han­geln wir uns lebens­lang von einer Bedürf­nis­be­frie­di­gung zu nächs­ten.

Das Den­ken von Fremd­be­stim­mung befrei­en

Den­ken oder glau­ben wir etwas, dann meis­tens nicht, weil wir uns zuvor mit dem, wor­über wir nach­den­ken oder wor­an wir glau­ben, ernst­haft und aus­gie­big beschäf­tigt haben und uns so eine unab­hän­gi­ge Mei­nung bil­den konn­ten. Meis­tens über­neh­men wir unse­re Mei­nun­gen ein­fach nur von ande­ren, machen also das, was wir irgend­wo gele­sen oder gehört haben, zu unse­rer Mei­nung.

Es ist wich­tig zu erken­nen, dass unse­re Mei­nun­gen oft gar kei­ne rich­ti­gen Mei­nun­gen sind: Man hat sie uns gege­ben und indem wir sie „adop­tier­ten“, wur­den sie zu unse­ren. In Wirk­lich­keit sind unse­re Mei­nun­gen und Ansich­ten Kuckuck-Mei­nun­gen. Um selbst­stän­di­ges Den­ken ent­wi­ckeln zu kön­nen, müs­sen wir die­sen Mecha­nis­mus erken­nen und abstel­len.

Dazu benö­tigt es eine Art Keim oder Fun­ken, den Wunsch, neue oder ande­re Gedan­ken, Mei­nun­gen oder Gefüh­le haben zu wol­len. Wir müs­sen uns mit unse­ren Mei­nun­gen und Lebens­ein­stel­lun­gen lang­wei­len. Neu­gier und Über­druss sind gute Indi­ka­to­ren für die­sen Pro­zess.

Das Poten­zi­al zur eige­nen Mei­nungs­bil­dung wecken

Besit­zen wir die­ses laten­te Poten­zi­al zur ech­ten Mei­nungs­bil­dung, ist es nur eine Fra­ge der Zeit, und neue Gedan­ken und Asso­zia­tio­nen ent­ste­hen schein­bar aus dem Nichts. Bei eini­gen Men­schen geschieht das von Kind­heit an, bei ande­ren setzt die­ser Pro­zess erst zu einem spä­ten Zeit­punkt ein. Bei den meis­ten ande­ren lei­der nie.

Han­delt es sich dabei tat­säch­lich um neu­es Gedan­ken- und Mei­nungs­ma­te­ri­al (und nicht nur um eine Varia­ti­on des alten), ist die­ser Pro­zess unauf­halt­sam, ähn­lich einer Ket­ten­re­ak­ti­on. Wir ent­wi­ckeln uns kon­ti­nu­ier­lich wei­ter, was bedeu­tet: Wir ler­nen hin­zu und ver­än­dern uns auf die­sem Hin­ter­grund ein Leben lang.

Die ein­ge­fah­re­nen Lebens­rou­ti­nen auf­bre­chen

Gibt es die­se Quänt­chen selbst­stän­di­ges, laten­tes Den­ken nicht, ist ein außer­ge­wöhn­li­ches Ereig­nis nötig, das die­sen Pro­zess in Gang setzt und uns aus unse­ren Denk-Rou­ti­nen, unse­rer men­ta­len Lethar­gie wirft und befreit.

Ein sol­ches außer­ge­wöhn­li­ches Ereig­nis kann eine per­sön­li­che Kata­stro­phe, ein Unfall, ein Schick­sals­schlag oder Ähn­li­ches sein: Unser Leben erfährt eine Ver­än­de­rung, die wir zuvor für unmög­lich hiel­ten. Wir kön­nen den Sta­tus quo nicht mehr auf­recht hal­ten, unse­re Lebens­rou­ti­nen bre­chen auf, weil sie für eine gewis­se Zeit ihre Bedeu­tung ver­lie­ren.

Sind wir in die­ser Pha­se auf­merk­sam und offen, kön­nen neue Impul­se und Asso­zia­tio­nen in uns ein­drin­gen und kei­men. Neue Räu­me oder Fens­ter öff­nen sich. Wir neh­men plötz­lich Din­ge wahr, die zwar schon immer da, für uns aber unsicht­bar waren. Wenn wir davor nicht zurück­schre­cken, ent­wi­ckeln wir uns wei­ter.


KRI­TIK AM DEN­KEN


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