Fesseln der Vergangenheit
Wenn es eine Religion geben sollte, dann eine, die »Friedlichkeit und Freundlichkeit« heißt. Denn das ist alles, was die Menschheit braucht.
Obwohl wir alle Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts sind, ist unser Denken und Assoziieren noch stark geprägt von den geistigen Errungenschaften längst vergangener Epochen. Von dieser Abhängigkeit müssen wir uns dringend befreien. Religionen sind letztendlich nur bronzezeitliche Erklärungsmodelle oder Sinngebungsversuche für die Welt, das Leben und die Existenz, mit dem naiven Anspruch, Antworten auf Fragen zu geben, die unbeantwortbar sind. Deshalb sollten wir uns heute, in modernen Zeiten, nicht mehr an ihnen orientieren. Doch als Nebeneffekt können sie helfen, ein qual- und leidvolles Dasein lebenslang besser ertragen zu können. Deshalb konnten sie sich in der ganzen Welt verbreiten und etablieren.
Erbschaft aus der späten Steinzeit
Das bedeutendste Erbe unserer Vorfahren aus vorzivilisatorischer Zeit ist wohl der Glaube an die Existenz eines oder mehrerer übernatürlicher Superwesen, die wir Götter nennen. Zwar gab es bereits im Mittelalter gelegentlich Zweifel an deren Existenz, dies geschah allerdings eher selten und galt meistens als Narretei. Doch schon in Platons Buch „Der Staat“ steht geschrieben: „Doch wenn es sie [die Götter] überhaupt nicht gibt … ()“ (DTV-Ausgabe 1991 Platon: Der Staat. Zweites Buch 8. Seite 73). Für freie Denker war in der Antike religionskritisches Denken also schon möglich.
Heutzutage riskiert ein Mensch sein Leben zwar nur noch in Ausnahmefällen, wenn er sich als Ungläubiger zu erkennen gibt, doch mit Diskriminierung muss er trotzdem rechnen. Nach wie vor ist es eine Tatsache, dass Intoleranz auf der theistischen Seite weit häufiger zu finden ist, als auf der atheistischen.
Das ist kein Wunder, denn der biblische Gott ist selbst sehr intolerant. Deswegen werden im Allgemeinen eher dogmatisch denkende Menschen von Religionen angezogen, denn freies Denken widerspricht dem Prinzip aller Religionen. Wir tun uns nach wie vor schwer damit, andere Menschen ihr Leben so leben zu lassen, wie diese es wollen. Es gibt beispielsweise Akademiker, die vorgeben einer Glaubenskonfession anzugehören, weil sie befürchten, einem Job an einem Institut nicht zu bekommen. Wirklich modern ist das nicht.
Die Wahrnehmung unserer archaischen Vorfahren
Wir müssen aufhören, eine Lehre zu pflegen, die dem Denken unserer archaischen Vorfahren entsprungen ist. Dieses Denken war begrenzt, im Rahmen des damaligen Allgemeinwissens: Die Erde ist eine Scheibe, die Sonne bewegt sich über den Himmel und niemand weiß, warum es Menschen und die Welt gibt. Absolut alles war ein Rätsel.
In dieser intellektuellen Atmosphäre entstand dann das Schöpfergottkonzept, das aus der Sicht unserer archaischen Vorfahren logisch und plausibel war.
Aus heutiger, moderner Sicht ist es jedoch infantil und unreif. Und dass so viele Menschen heute noch daran festhalten, zeigt: Wir verstehen die Existenz nicht als Wunder, das nicht erklärt werden kann, auch nicht durch das Postulat eines Schöpfergottes, der selbst wieder ein weiteres Wunder darstellt. Wollen wir also weiterhin religiös sein, dann sollten wir das nicht mehr auf die mittelalterliche Art tun, denn dieses Zeitalter ist Vergangenheit. Folgendes sollte uns inzwischen klar sein:
- Die religiösen Vorstellungen unserer archaischen Vorfahren spiegeln lediglich deren Ängste und Wünsche wider.
- Ein guter Gott würde niemals Glauben oder Unterwerfung verlangen. So etwas tun nur Menschen.
- Ein guter Gott straft oder belohnt nicht. So etwas tun nur Menschen.
- Wir können nicht gegen Gottes Gebote verstoßen, denn nur Menschen erlassen Gebote und Gesetze.
Mit anderen Worten: Sämtliche Attribute, die einen Menschen beschreiben, dürfen nicht auf Gott angewandt werden, denn das wäre eine Vermenschlichung Gottes, eine Anthropomorphisierung der Existenz. Dies sollte uns heute allen klar sein, denn wir leben nicht mehr im Mittelalter, sondern im 21. Jahrhundert, einer relativ modernen und aufgeklärten Zeit – darauf sollte so oft wie möglich hingewiesen werden.
Religionen entwickeln sich nicht weiter
Doch auf keinem anderen Gebiet sind wir rückständiger, als auf dem der Religion. Was unsere technischen Ausstattungen angeht, sind wir überwiegend auf der Höhe der Zeit. Unsere Mobiltelefone sind meistens die neusten Modelle und oft können wir es kaum abwarten, bis ein neues auf den Markt kommt. Unsere Autos sind selten älter als zehn Jahre und in unsere Computer bauen wir periodisch leistungsfähigere Speicherchips, Laufwerke oder Grafikkarten ein oder kaufen uns gleich einen neuen. In unseren Wohnzimmern stehen moderne LCD- oder Plasmafernseher, die wir alle fünf bis zehn Jahre gegen ein besseres Modell austauschen. Wir kochen unser Essen auf Induktionsherden und unsere Spülmaschinen säubern das Geschirr im Eco-Modus. Selbst unsere Mode tragen wir kaum länger als ein paar Jahre. Was die materiellen Aspekte des Lebens betrifft, sind wir also sehr modern und zukunftsorientiert und verpassen ungern eine Neuerung.
Doch wenn es um unsere geisteswissenschaftlichen Errungenschaften, speziell der Religion geht, begnügen wir uns mit dem, was bereits seit Jahrhunderten hoffnungslos veralteten ist.
Artefakte der Vergangenheit
Unsere etablierten Religionen sind seit Ihrer Entstehung so gut wie unverändert geblieben, sie entwickelten sich im Gegensatz zu allem anderen nicht weiter. Nüchtern betrachtet sind sie nur angestaubte Artefakte aus einer fremden Welt, die keinen Bezug zur Gegenwart besitzen. Wir schleppen sie aus Tradition mit uns herum, ohne uns eigentlich wirklich für sie zu interessieren. Wäre das der Fall, würden wir sie in Frage stellen.
Die wichtigsten Elemente unserer Religionen sind Unterwürfigkeit und Gehorsam gegenüber Gott und seinen Stellvertretern, der Priesterschaft.
Das erkennen wir auch daran, dass die ersten biblischen Gebote keinen pazifistischen Charakter besitzen, sondern lediglich Gehorsam einfordern. Erstes Gebot: Ich bin dein Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Zweites Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
Das ist extrem eitel. Eitelkeit passt nicht zu einem ewig existierenden, absolut wahrhaftigen und weisem Lebewesen. Eitelkeit ist Ausdruck von Egozentrik und Selbstverliebtheit und setzt einen Vergleich mit etwas anderem voraus. Doch womit sollte ein Wesen, dass ohne Anfang und Ende existiert und das einzige seiner Art ist, sich vergleichen wollen oder können? Mit anderen Göttern, die es laut seiner eigenen Worte gar nicht gibt? Dann hätte Jehova ein sehr niedriges Selbstbewusstsein, wenn er sich von einer eingebildeten Konkurrenz bedroht fühlt.
Friedlichkeit ist untergeordnet
Erst an fünfter Stelle steht: „Du sollst nicht töten“. (Gemeint ist damit jedoch kein generelles Tötungsverbot. Denn oft befiehlt Jehova seinem Volk andere Völker zu töten, oder tut es selbst. Deswegen müsste es eigentlich heißen: „Du sollte keine Leute deines eigenen Stammes töten.) Selbst das Einhalten der Feiertage (4. Gebot) ist wichtiger als Friedlichkeit.
Entstanden sind diese Regeln zu einer Zeit, als der Zusammenhalt in den Gesellschaften stark von einer gut funktionierenden, strengen Hierarchie abhängig war. Doch in der Welt der Zukunft wird dieses Prinzip nicht mehr funktionieren. Der Mensch der Zukunft wird kein Mensch des Mittelalters sein können. In Zukunft werden immer mehr Menschen ihr Leben nach ihren eigenen Parametern gestalten wollen und sich dieses Recht auch vorbehalten.
Die Nützlichkeit der Religion
Religion ist zwar eine Form des Aberglaubens aus archaischen Zeiten, besitzt aber trotzdem eine nicht unbedeutende Funktion: Sie kann den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit sowie den friedlichen Umgang miteinander fördern.
Dies gilt zwar meistens nur dort, wo Menschen der gleichen Religion angehören und dann auch nicht immer und wirklich – aber besser als gar nicht. Vielleicht dämpfen sie unseren Hang zur Gewalttätigkeit – zumindest ein wenig. Möglicherweise ist dieser positive Effekt größer als der Schaden, den sie oft anrichten (Kriege, Lebensfeindlichkeit, Leid und Tod, Fortschrittsfeindlichkeit und Ähnliches mehr), sodass unterm Strich gesagt werden kann: Noch brauchen wir die Religionen, denn ohne sie wäre das Chaos in der Welt noch größer. Beweisbar ist diese These jedoch nicht.
Religion reflektiert zwar ein unreifes Bewusstsein, trotzdem dürfen wir sie nicht verdammen. Die Menschheit ist noch jung und noch lange nicht erwachsen und kann deshalb in bestimmten Aspekten ihres Daseins auch nur unreif sein.
Religion ist auch heute noch berechtigt, denn sie ist ein Bestandteil unserer Entwicklung. Aus diesem Grund sollten wir die Tatsache, dass so viele Menschen noch an einen übernatürlichen, allmächtigen Herrscher glauben, anerkennen und respektieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir sie nicht kritisieren dürfen und sollten.
Versucht man Kindern ihre Kindlichkeit auszutreiben, wird man entweder scheitern oder Schaden anrichten. Bei der Menschheit ist es nicht anders: Würde man versuchen, sie künstlich auf eine Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsstufe zu heben, zu der sie noch nicht reif ist, wäre der Schaden wahrscheinlich noch viel größer als bei einem Kind, dem man seine Kindlichkeit nicht gönnt.
Wir brauchen noch unseren Glauben an einen Moral stiftenden Übervater, denn wir sind als Menschheit noch nicht fähig, eigenverantwortlich richtig zu handeln. Deshalb ist es besser, die Menschheit lebt ihre religiösen Bedürfnisse aus.
Den Placeboeffekt nutzen
Auf Dauer müssen wir natürlich lernen, unabhängig von einer religiösen (oder sonst wie gearteten) Lehre, freundlich und friedlich miteinander auszukommen. Zu oft ist unsere Freundlichkeit abhängig von einer Doktrin, die nicht weiter reicht, als bis zu unserer Haustür.
Bei einigen Sekten ist das besonders deutlich: Tritt beispielsweise ein Zeuge Jehova aus seiner Glaubensgemeinschaft aus, wird er oft von seinen ehemaligen Glaubensgenossen angefeindet. Wirklich freundliche Menschen würden sich niemals so verhalten. Freundlichkeit, wie sie innerhalb bestimmter Glaubensgemeinschaft existiert, ist nur bedingte Freundlichkeit, ähnlich einer Kameradschaft. Kameradschaft existiert dort, wo ein gemeinsames Interesse besteht. Wir sind freundlich zueinander, weil wir aufeinander angewiesen sind. Verschwindet dieses gemeinsame Interesse, verschwindet auch die Freundschaft.
Trotzdem kann gesagt werden: Obwohl wir oft nur freundlich und friedlich zueinander sind, weil wir der gleichen Religion, dem gleichen Kulturkreis oder Verein angehören, ist das besser als gar nichts. Denn zunächst geht es nur um Friedlichkeit und Freundlichkeit. Wie diese zustande kommen, ist zunächst einmal unwichtig.
Dass wir meistens nur aufgrund bestimmter Bedingungen zur Freundlichkeit und Friedlichkeit bereits sind, ist natürlich schade. Es wäre jedoch dumm, Friedlichkeit abzulehnen, weil sie nicht bedingungslos ist. Religion kann deshalb bei der Gestaltung einer friedlichen und freundlichen Welt helfen. Weil sie keinen realen Hintergrund besitzt, sollten wir sie nicht grundsätzlich verdammen oder ablehnen. Genauso dumm wäre es, auf den Einsatz von Placebos zu verzichten, nur weil diese keine echte Medizin sind.
Wir Menschen schließen, schlossen halt von uns auf “Gott” und jetzt ändert sich gerade unsere Vorstellung von ihm in besonders drastischer und notwendiger Weise und wir werden eine humanere zeichnen und auch diese wird der Wandlung unterworfen sein.
Die Quäker ahnten, dass etwas von Gott in jedem Menschen ist. Das Lauschen in sich empfanden sie als Hilfe. Vollkommen waren sie freilich auch nicht, weil alles im Werden ist.
Symptomatisch sehe ich auch das Hin- und Her- Ringen des Papstes Franziskus. Was er Gutes hierbei tut und nicht alles schaffen kann.… Und dass er dabei seine seelische Gesundheit behalten hat, ist erstaunlich. Man freut sich über ihn und mitunter erschrickt man.…