Wahr­heit


Eine lange Schneise, links und rechts von Tannenbäumen eingegrenzt. Am Ende ein riesiges Schloss, das in der Luft zu schweben scheint. Eine noch größere Hand greift nach dem Schloss. Im Vordergrund steht ein Wanderer, der das ganze betrachtet.

Rela­ti­ve Wahr­hei­ten

Alle Wahr­hei­ten sind rela­tiv, bis auf die, dass alle Wahr­hei­ten rela­tiv sind“, ist ein lus­ti­ger Spruch, mehr aber auch nicht.

Denn vie­le ande­re Wahr­hei­ten sind eben­falls nicht rela­tiv. Bei­spiels­wei­se ist die Aus­sa­ge „Es ist abso­lut wahr, dass es mich gibt“ ein­deu­tig und nicht rela­tiv.

Von Wahr­heit zu spre­chen, macht nur Sinn, wenn auch die Mög­lich­keit zur Unwahr­heit besteht. Der Satz „Es ist wahr, dass es mich gibt“ ist zwar kor­rekt, wirkt jedoch wie eine logi­sche Tri­via­li­tät – ein Gedan­ke, der sich selbst bestä­tigt und daher über­flüs­sig erscheint. Schließ­lich setzt allein das Aus­spre­chen die­ser Aus­sa­ge mei­ne Exis­tenz bereits vor­aus.

Grenz­fäl­le der Wahr­hei­ten

Der Satz „Es reg­net oder es reg­net nicht“ erscheint zunächst ein­deu­tig, doch sei­ne Anwen­dung birgt Her­aus­for­de­run­gen: Wo genau ver­läuft die Gren­ze zwi­schen Regen und Nicht-Regen?

Wenn die Luft feucht genug ist, sodass sich mikro­sko­pisch klei­ne Tröpf­chen bil­den, die jedoch nicht als Nie­sel­re­gen nie­der­ge­hen kön­nen, reg­net es noch nicht. Es muss aber eine Grau­zo­ne zwi­schen Was­ser­dampf und den ers­ten sicht­ba­ren Trop­fen geben, auch wenn sie nur kurz besteht. Eine sol­che Unschär­fe exis­tiert bei Aus­sa­gen wie „Es ist wahr, dass es mich gibt“ nicht.

Wir soll­ten uns daher hüten, die Wahr­heit grund­sätz­lich als rela­tiv zu betrach­ten. Sie ist es nur unter außer­ge­wöhn­li­chen Umstän­den – etwa, wenn Natur­ge­set­ze oder Kau­sa­li­tät auf­ge­ho­ben sind. Im All­tag jedoch ist sie weit­ge­hend kon­stant.

Wir kön­nen dar­auf ver­trau­en, dass die Welt tat­säch­lich exis­tiert, so wie sie uns erscheint. Unser Leben, mit all sei­nen Freu­den, Lei­den und Irra­tio­na­li­tä­ten, ist wirk­lich.

Vir­tu­el­le Wahr­hei­ten

Vie­le objek­ti­ve Wahr­hei­ten las­sen sich phi­lo­so­phisch anzwei­feln – theo­re­tisch fast alle. Nur weni­ge sind unwi­der­leg­bar. Zum Bei­spiel ist die Exis­tenz mei­nes Schreib­tischs eine offen­sicht­li­che Tat­sa­che. Doch ob er genau­so exis­tiert, wie er uns erscheint, kön­nen wir nicht mit abso­lu­ter Sicher­heit sagen.

Es ist denk­bar, dass die Welt, wie wir sie wahr­neh­men, ledig­lich ein Kon­strukt unse­res Geis­tes ist – eine Vor­stel­lung oder gar eine Illu­si­on. Unse­re nächt­li­chen Träu­me sind ein Beweis dafür, dass vir­tu­el­le Wel­ten exis­tie­ren kön­nen.

Die ein­zi­ge Wahr­heit, die abso­lut gewiss ist, ist unse­re Exis­tenz als Bewusst­sein: „Ich den­ke, also bin ich“. Selbst wenn wir uns unse­re Exis­tenz nur ein­bil­den könn­ten, bedürf­te dies unse­rer Exis­tenz als den­ken­des Wesen.

Doch die­se Über­le­gun­gen sind phi­lo­so­phi­sche Spie­le­rei­en. Im All­tag sind sie irrele­vant. Was zählt, ist das, was für unser Leben Bedeu­tung hat.


Wahr­heits­ka­te­go­rien

Objek­ti­ve, all­ge­mei­ne Wahr­hei­ten – uni­ver­sel­le Gül­tig­keit
Die Welt der Din­ge, Fak­ten und natur­wis­sen­schaft­li­chen Geset­ze. Sie exis­tie­ren unab­hän­gig von unse­rer Wahr­neh­mung – auch wenn wir nicht immer sicher sind, ob sie genau so sind, wie sie uns erschei­nen.
 
Sub­jek­ti­ve, rela­ti­ve Wahr­hei­ten – per­sön­li­che Gül­tig­keit
Die Welt der Geschmä­cker, Mei­nun­gen und indi­vi­du­el­len Per­spek­ti­ven. Die­se Wahr­hei­ten sind per­sön­lich und wan­del­bar – heu­te wahr, mor­gen falsch.
 
Unschar­fe Wahr­hei­ten – vir­tu­el­le Gül­tig­keit
Die Welt der Theo­rien, Ver­mu­tun­gen und Über­zeu­gun­gen. Sie exis­tie­ren in unse­rem Geist und ent­zie­hen sich oft der end­gül­ti­gen Über­prü­fung.
 
For­mel­le Wahr­hei­ten – sug­ges­ti­ve Gül­tig­keit
Die Welt der Täu­schun­gen, Lügen und diplo­ma­ti­schen Flos­keln. Die­se Wahr­hei­ten die­nen häu­fig sozia­len oder poli­ti­schen Zwe­cken und sind manch­mal not­wen­dig für den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt.

Wahr ist, was wir für wahr hal­ten

Die Wahr­heit ist oft sub­jek­tiv, denn was für den einen gilt, kann für den ande­ren das Gegen­teil bedeu­ten. Ein ein­fa­ches Bei­spiel: Spi­nat schmeckt dem einen und dem dem ande­ren nicht.

In die­sem Sin­ne ist es zugleich wahr, dass Spi­nat schmeckt, und eben­so, dass er es nicht tut. Sol­che indi­vi­du­el­len Wahr­hei­ten sind per­sön­lich und varia­bel. Die Aus­sa­ge „Spi­nat schmeckt“ ist somit sowohl wahr als auch falsch – abhän­gig von der Per­spek­ti­ve.

Wenn wir uns auf „die Wahr­heit“ beru­fen, um eine Mei­nung oder Behaup­tung zu unter­mau­ern, tun wir das meist aus der Per­spek­ti­ve sub­jek­ti­ver Wahr­hei­ten. Die­se erschei­nen uns objek­tiv, weil sie unse­re eige­nen sind. Dabei ver­ges­sen wir, dass unse­re Erfah­run­gen und Ansich­ten von Natur aus begrenzt sind.

Dar­aus ergibt sich ein ver­brei­te­tes Miss­ver­ständ­nis: Wir nei­gen dazu, ande­ren Rea­li­täts­blind­heit zu unter­stel­len, wenn sie unse­re Wahr­neh­mung nicht tei­len. Unse­re per­sön­li­che Rea­li­tät erscheint uns wie die ein­zig wah­re, weil wir sie unmit­tel­bar erle­ben und kaum alter­na­ti­ve Per­spek­ti­ven aner­ken­nen.


Auf einem dicken Mast steht auf einer nestähnlichen Plattform ein wie ein Matrose gekleideter Mann und schreit etwas in ein Megafon.

Miss­brauch des Aus­drucks Wahr­heit

Wir spre­chen oft von Wahr­heit, aber sel­ten aus ehr­li­chem Inter­es­se an ihr. Viel­mehr inter­es­siert sie uns, wenn sie unse­re Posi­ti­on stärkt oder uns Vor­tei­le ver­schafft. In sol­chen Momen­ten geben wir uns als Wahr­heits­lie­ben­de und nut­zen sie stra­te­gisch für unse­re Zwe­cke.

Umge­kehrt igno­rie­ren, leug­nen oder rela­ti­vie­ren wir die Wahr­heit, wenn sie uns scha­det. Die­se Fle­xi­bi­li­tät im Umgang mit der Wahr­heit macht den Spruch „Die Wahr­heit ist rela­tiv“ so beliebt. Eigent­lich soll­te klar sein, dass Wahr­heit sich auf objek­ti­ve Tat­sa­chen bezieht.

Doch vie­le die­ser Tat­sa­chen sind unan­ge­nehm. Sie kon­fron­tie­ren uns mit Aspek­ten der Rea­li­tät, die wir ver­mei­den möch­ten. Daher nei­gen wir dazu, das als wahr zu betrach­ten, was unse­re Sicht­wei­se bestä­tigt oder uns nützt.

Die­ses Ver­hal­ten ist nach­voll­zieh­bar, weil nie­mand gern mit unbe­que­men Wahr­hei­ten kon­fron­tiert wird. Den­noch führt es dazu, dass die Wahr­heit oft weni­ger gesucht wird, als wir behaup­ten – und ihre Rela­ti­vie­rung oder Mani­pu­la­ti­on eher die Regel als die Aus­nah­me dar­stellt.

Das Wahr­heits-Eti­kett der Truther-Sze­ne

Obwohl wir häu­fig von Wahr­heit spre­chen, inter­es­siert sie uns oft nur, wenn sie uns einen Vor­teil ver­schafft. Ist das nicht der Fall, rela­ti­vie­ren oder igno­rie­ren wir sie. Der belieb­te Satz „Die Wahr­heit ist rela­tiv“ wird oft benutzt, um unan­ge­neh­men Fak­ten aus­zu­wei­chen.

Wo pla­ka­tiv von Wahr­heit die Rede ist, fin­det man sie oft am wenigs­ten. Ein Bei­spiel ist die Social-Media-Platt­form Truth Social von Donald Trump. Der Name sug­ge­riert eine Hin­ga­be an die Wahr­heit, doch tat­säch­lich han­delt es sich um ein Por­tal, das Lügen als Wahr­heit und Wahr­heit als Lüge insze­niert.

Die­ses Phä­no­men fin­det sich auch in der soge­nann­ten Truther-Sze­ne: Hier wird „Wahr­heit“ oft als Kampf­be­griff benutzt, um sub­jek­ti­ve Über­zeu­gun­gen zu recht­fer­ti­gen. Doch ech­te Wahr­hei­ten benö­ti­gen kei­ne pla­ka­ti­ve Insze­nie­rung – sie spre­chen für sich.

Je pene­tran­ter betont wird, etwas sei „wahr“, des­to grö­ßer ist die Wahr­schein­lich­keit, dass die­se „Wahr­heit“ einer kri­ti­schen Über­prü­fung nicht stand­hält. Wirk­li­che Wahr­heits­lie­be zeigt sich in nüch­ter­ner Offen­heit – nicht in auf­dring­li­cher Selbst­ver­ge­wis­se­rung.


2 Gedanken zu „Wahr­heit“

  1. Die ein­zi­ge Wahr­heit die der Mensch am Ende sei­nes Lebens erfährt ist die,dass alles gelo­gen war.
    Vor der Wahr­heit fürch­ten sich mehr,als vor der Lüge. Denn die Wahr­heit ist die ein­zi­ge Waffe,die kei­ne Waf­fe der Gewalt ist.
    Die Men­schen zu belü­gen, ist leichter,als sie davon zu überzeugen,dass sie belo­gen wur­den sind.

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    • Die ein­zi­ge Wahr­heit die der Mensch am Ende sei­nes Lebens erfährt ist die,dass alles gelo­gen war.

      Außer natür­lich das, was du glaubst und meinst, nicht wahr? Oder meinst du etwa, dass auch das, was du denkst und glaubst, sich am Ende dei­nes Lebens als Lüge ent­pup­pen wird? Dann soll­test du am bes­ten jetzt schon auf­hö­ren, an die­se Lügen zu glau­ben.

      Vor der Wahr­heit fürch­ten sich mehr,als vor der Lüge. Denn die Wahr­heit ist die ein­zi­ge Waffe,die kei­ne Waf­fe der Gewalt ist. Die Men­schen zu belü­gen, ist leichter,als sie davon zu überzeugen,dass sie belo­gen wur­den sind.

      Ja, und auf dich trifft die­se Regel ganz beson­ders zu. Denn wer an Wahr­heit inter­es­siert ist, ori­en­tiert sich im Leben nicht an dem, was ande­re geschrie­ben oder gesagt haben. Und sowie es aus­sieht, hast du alles, was du denkst und glaubst, von ande­ren Leu­ten über­nom­men. Es wur­de nur geschrie­ben, weil man wuss­te, das es Leu­te gibt, denen das gefällt. An der Wahr­heit inter­es­sier­te Men­schen behaup­ten nicht ein­fach etwas, ohne es anschlie­ßend zu erklä­ren. Denn eine Behaup­tung ist ohne Erklä­rung wert­los. Das soll­te jeder Wahr­heits­in­ter­es­siert wis­sen.

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