Wir sind nicht wirklich erwachsen
Als Kinder und Jugendliche sind wir noch unreif und unwissend. Aufgrund dieser Defizite verhalten wir uns oft unvernünftig, denn uns fehlt die nötige Erfahrung, die uns hilft, unvernünftiges Verhalten zu vermeiden. Sind wir dann erwachsen, sollten wir eigentlich fähig sein, vernünftig denken und handeln zu können – doch das ist leider nur selten der Fall: Wir verhalten uns dann oft genauso unvernünftig und unreif, nicht selten sogar verstärkt. Woran könnte das liegen?
Als Erwachsene sind wir in vielen Fällen
nur Jugendliche in einem Erwachsenenkörper.
Vorausgesetzt, wir leiden nicht unter Ernährungsmangel, wachsen und reifen unsere Körper selbstregelnd aus – unsere Psyche, unser Bewusstsein jedoch nicht. Als Erwachsene erfüllen wir uns oft Wünsche, die uns in unserer Kindheit verwehrt waren. Es gibt beispielsweise Männer, die leidenschaftlich mit Eisenbahnen spielen – eigentlich ein Kinderspielzeug. Sie durften in ihrer Kindheit vielleicht nicht oft genug mit ihrer Eisenbahn spielen und holen dieses Bedürfnis jetzt nach. Und viel zu oft sind unsere Autos, Computer, Handys usw. ebenfalls nur Instrumente und Spielzeuge zum Zeitvertreib. Wir haben als Erwachsene nicht wirklich unsere Kindheit hinter uns gelassen.
Spätpubertäres Verhalten bei Erwachsenen
Gewalttätige Rocker, Hooligans und auch auf eine spezielle Weise Neonazis, sind eine andere Art »Kinder in einem Erwachsenenkörper«. Sie führen sich immer noch auf wie pubertierende Jugendliche und scheinen in einer Entwicklungsphase stecken geblieben zu sein, in der Jugendliche sich selbst als supercool und stark empfinden, weil sie keine Kinder mehr sind. Normalerweise beenden wir diese Phase zum Ende der Adoleszenz, doch manchmal schleppen wir sie auch in unser Erwachsenendasein hinein. Dann kann es passieren, dass wir uns lebenslang wie die sprichwörtlichen Halbstarken aufführen.
Schlechte Vorbilder für Jugendliche und Kinder
Unsere geistig-seelische, mentale und intellektuelle Entwicklung ist abhängig von unserem sozialen Umfeld, das sich aus Eltern, Lehrern, Medien, Vorbildern oder Freunden zusammensetzt. Sind diese Vorbilder jedoch selbst unreif und widersprüchlich (was mehr oder weniger die Regel ist), überträgt sich dieses Entwicklungsdefizit auf die Heranwachsenden. Unsere Entwicklung zu authentischen und psychisch autarken Individuen wird dadurch verhindert oder zumindest erschwert.
Es gibt Ausnahmen, in denen Kinder und Jugendliche nicht die schlechten Eigenschaften ihres Umfeldes annehmen. Manchmal sind Kinder geistig bereits reifer als ihre erwachsenen Autoritätspersonen. Das ist eine interessante Beobachtung und zeigt, wir sind nicht immer den negativen Einflüssen unseres sozialen Milieus ausgeliefert: Es kommt auf den Einzelnen an.
Das entfesselte Kind
Wenn wir erwachsen sind, dann meistens nur körperlich.
In unserem Inneren sich wir nach wie vor Kinder,
allerdings mit den Möglichkeiten eines Erwachsenen.

Und darauf haben wir jahrelang gewartet: Jetzt dürfen wir das tun, was wir schon immer tun wollten, uns aufgrund unserer Unmündigkeit und körperlichen Unterlegenheit jedoch verboten oder nicht möglich war. Das macht uns als (Pseudo-)Erwachsene mit unserem Nachholbedürfnis so gefährlich und unberechenbar. All die Demütigungen, Zurückweisungen und Entbehrungen (ob zu Recht oder nicht), die wir in unserer Jugend und Kindheit hinnehmen mussten, kompensieren wir jetzt. Wir müssen uns nicht mehr alles gefallen lassen (wir sind nicht mehr schwach wie ein Kind), wir können jetzt Dinge unser Eigen nennen, die wir schon immer besitzen wollten (wir haben Geld), wir bekommen jetzt die Anerkennung, die uns früher verwehrte wurde (man respektiert uns, sieht uns als gleichberechtigt an). Doch da wir in unserem Inneren immer noch unreif sind, sind es auch unsere Ansprüche und Intentionen.
Als Erwachsene könnten wir eigentlich wissen, dass man uns in unserer Kindheit eher selten absichtlich ungerecht behandelt hat. Die Erwachsenen, die uns zu Recht oder zu Unrecht einschränkten und maßregelten, standen unter Zugzwang. Manchmal meinten sie es gut und handelten trotzdem falsch, manchmal wussten sie es nicht besser oder waren hilflos und merkten nicht, dass ihre traditionellen Erziehungsmethoden Schlimmes anrichteten, oft taten sie aber das Richtige, doch es gefiel uns nicht oder wir erkannten es nicht.
Das könnten wir als Erwachsene wissen, doch da wir bisher stets nur daran interessiert waren, so schnell wie möglich unsere »Nicht-Erwachsenenzeit« hinter uns zu bringen, haben wir dafür keinen Blick. Endlich sind wir dort, wo wir uns uneingeschränkt entfalten können – und das ist alles, worauf es uns ankommt. Jetzt sind wir an der Reihe und können das tun, was uns bisher untersagt war.
Falsche Motivationsgrundlage
Wenn wir Macht und Besitztümer anhäufen, kompensieren wir meistens nur die Entbehrungen und Demütigungen unserer Kindheit. Wir wurden ungerecht behandelt – jetzt behandeln wir andere ebenso. Wir mussten gehorchen – jetzt müssen andere uns gehorchen. Wir waren machtlos — jetzt haben wir Macht über andere.
Als Erwachsene erwerben wir nicht deshalb Macht, Besitz und Autorität, um einen kreativen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, sondern für unsere persönliche Befriedigung, Bereicherung und Genugtuung, nur um etwas zu sein, was wir in unserer Jugend nicht sein durften, nur weil wir in unserem Inneren immer noch unreif sind und die wirklichen Ursachen unserer Bedürfnisse nicht kennen.
UNSERE ETHISCHE WEITERENTWICKLUNG
Hervorragender Artikel. Ich hatte das Glück nicht allen Erwachsenen mein Vertrauen zu entziehen. Bekannte meiner Eltern haben mir Wege gezeigt mich mit Verstand (keine erniedrigenden Worte und dem nötigen Respekt zu agieren). Ich habe meine Gefühle aus der Kindheit behalten. Die Vorstellung wissentlich zu demütigen tut weh. Mein Satz für mich selbst heißt “Behandle andere so, wie auch du behandelt werden möchtest. Beurteilt haben Eltern und Lehrer schon genug. Christine
Ja, zum Glück gibt es so etwas hin und wieder mal. Leider sind das noch Ausnahmen. Doch ich habe den Eindruck, diese Ausnahmen nehmen zu. Immer mehr und mehr Eltern — besonders junge Mütter — legen viel Wert darauf, nicht die gleichen Fehler zu machen wie ihre Eltern. Sie helfen ihren Kindern ein emanzipiertes Leben zu leben — so weit das möglich ist. Allerdings bedarf es dafür ein relativ entspanntes soziales Umfeld. Und das findet man meistens nur in den Ländern, in denen jeder so leben darf, wie es ihm beliebt (solange er nicht gegen die wichtigen Gesetze und Regeln verstößt). Wenn dieser Trend also nicht abbricht, bin ich sehr optimistisch für unsere Zukunft.
Michael