Klarheit, Übersicht und Funktionalität
Wenn man etwas nicht einfach erklären kann, hat man es nicht verstanden. Albert Einstein
Vielleicht ist dieser Spruch etwas zu allgemein, doch eins ist klar: Wer keinen Wert darauf legt, ob das, was er behauptet, von anderen überhaupt verstanden werden kann, dem ist es potenziell egal, ob es auch stimmt.
Inhalt
Wenn wir wollen, dass unsere Systeme, Strukturen, Lehren und Methoden gut funktionieren, sollten wir sie möglichst einfach gestalten. Eine Formel aus Dutzenden Variablen und Termen ist fehleranfälliger als eine mit wenigen. Defekte Bestandteile einer Maschine können besser erkannt und gefunden werden, wenn der Apparat einfach konstruiert ist. Das gilt für alles, was in einem zeitlichen Prozess funktionieren muss, beispielsweise Maschinen, Geräte, Computerprogramme oder die Regeln des sozialen Zusammenlebens.
Da sich das jedoch nicht immer realisieren lässt (manche Maschinen oder Systeme lassen sich halt nicht einfach gestalten), akzeptieren wir, dass manches einfach nicht einfacher geht. Und solange unsere Welt auf diese Art im Großen und Ganzen auch halbwegs gut funktioniert, stören wir uns nicht an dieser Umständlichkeit.
Heimliche Liebe zum Komplizierten
Je einfacher etwas ist, desto größer ist sein potenzieller Wahrheitsgehalt.
Manche Lebensbereiche, besonders die sozialen, gestalten wir unbewusst (manchmal sogar absichtlich) komplizierter als sie eigentlich sein müssten. Wir mögen künstlich aufgebauschte Komplexität, denn in diesem Gewirr ist es leichter, sich zu verstecken. Und wenn wir diese beherrschen, können wir stolz auf uns sein. Das klingt zwar verrückt, doch der Grund für dieses seltsame Verhalten ist einfach:
Es geht uns oft gar nicht darum, etwas tatsächlich zu können oder zu wissen, sondern nur darum, dass andere und wir diesen Eindruck haben. Denn mehr wird in unserer Gesellschaft meistens nicht erwartet. Hauptsache, es sieht so aus!
Einfachheit ist unbeliebt
Die Natur verwirklicht immer den einfachsten oder direktesten Lösungsweg – wir hingegen lieben oft den umständlichen und längeren.
Ein anderer Aspekt, aus dem wir Einfachheit oft nicht mögen oder sogar diskreditieren: Sie ist verpönt, weil sie mit Simplizität oder sogar Stupidität gleichgesetzt oder verwechselt wird. Auch deshalb pflegen wir unsere künstlich komplizierten Systeme und Vorstellungen mit Leidenschaft und wehren uns gegen Vereinfachungen.
Viele unserer Probleme bekommen wir nur deshalb nicht in den Griff, weil sie in unnötigen Strukturen und Ritualen eingebettet sind, die uns den klaren Blick auf den Sachverhalt erschweren. Die Lösung eines Problems könnte nämlich unser Verhalten selbst als Teil des Problems aufzeigen, und da uns diese Vorstellung nicht gefällt (weil wir keine Lust auf Veränderung haben), schaffen wir Irrgärten und Phantome. Es ist eine virtuelle Betäubung der besonderen Art.
Anstatt dass wir uns mit einem eventuell leicht zu behebenden Missstand auseinanderzusetzen, relativieren wir ihn, wollen ihn nicht wahrhaben, oder suchen und konstruieren Bedingungen, die es uns erlauben, sagen zu dürfen: „So einfach ist das nicht!“ So gehen wir unangenehmen Erkenntnissen über uns selbst aus dem Weg.
Scheinbare Einfachheit
Das bedeutet aber nicht, dass nur, weil eine Lösung einfach ist, sie auch besser bzw. richtig ist. Denn manchmal sind unsere einfachen Lösungen gar nicht einfach – sie sind es nur bei oberflächlicher oder unvollständiger Betrachtung.
Beispielsweise scheint für Neonazis und Reichsbürger die Parole „Ausländer raus!“ die Lösung für die meisten sozialen Probleme in Deutschland zu sein. Sie suggeriert oder unterstellt, unsere sozialen und gesellschaftlichen Probleme wären das Ergebnis einer falschen Sozialpolitik und auf die Anwesenheit von zu vielen undeutschen Menschen zurückzuführen. Wir müssten also nur die nicht deutschen Menschen entfernen, und schon würde es Deutschland besser gehen.
Oberflächlich betrachtet scheint das vielleicht zu stimmen, genauer betrachtet fällt auf, dass nicht der Ausländeranteil für unsere gesellschaftlichen Probleme verantwortlich ist. Denn gäbe es tatsächlich keine Ausländer in Deutschland, wären die Leute, die jetzt „Ausländer raus!“ rufen, trotzdem von ihrem Leben enttäuscht und frustriert. Sie würden sich dann nur einen anderen Sündenbock suchen, den sie für ihre Lebensprobleme verantwortlich machen.
Die Probleme, unter denen diese Gesellschaft leidet, sind nicht auf einen evtl. zu hohen Ausländeranteil zurückzuführen. Sie sind Ausdruck des »Überangebots an Möglichkeiten«, in dieser offenen und freien Gesellschaft. Manche Menschen sind davon überfordert, denn um alle Möglichkeiten einer offenen und freien Gesellschaft nutzen zu können, muss man selbst ein kreativer und offener Mensch sein.
Offenheit, das zweite Gesicht der Einfachheit
Einfachheit und Offenheit sind miteinander verwandte Prinzipien. Offenheit ist eine einfache, anspruchslose Form und Einfachheit erleben wir unmittelbar, also nicht über Umwege. Beide sind sensible Zustände, denn wenn wir einfach und offen sind, sind wir auch angreifbar und verletzlich.
Allerdings muss das nicht so sein. Es stimmt zwar: Öffnen wir uns, können wir seelisch und geistig verletzt werden. Doch wenn wir wissen, was und warum etwas in uns verletzlich ist (wir unsere seelischen Dispositionen kennen), können wir bewusst mit diesem Gefühl umgehen.
Kennen und verstehen wir die neuralgischen Punkte unseres Seelenlebens und unserer Selbstwahrnehmung, können wir Angriffe auf unser Selbstbewusstsein abpuffern bzw. ins Leere laufen lassen, ohne selbst auf Angriff gehen zu müssen.
Resilienz entwickeln
Eine Voraussetzung für diese Fähigkeit ist, dass wir selbst an unserem Innenleben interessiert sind und es auch kennen. Leider ist das nur selten der Fall, denn meistens glauben wir, eine Erforschung unserer inneren Welt wäre unnötig.
Wir halten die Vorstellung, wir könnten uns selbst und unsere Bedürfnisse nicht richtig kennen, für Blödsinn. Wenn wir eins gut kennen – davon sind wir fest überzeugt – dann doch wohl uns selbst!
An diesem Punkt irren wir uns: Wir wissen zwar, was wir mögen, ablehnen, können oder auch nicht können. Warum wir unsere Abneigungen und Vorlieben haben (die manchmal sehr widersprüchlich und irrational sind), wissen wir hingegen nicht. Es interessiert uns gar nicht.
Fänden wir die Ursachen für unsere Vorlieben und Ängste heraus, erführen wir etwas über uns selbst. Doch das wollen wir nicht und gehen diesen Erkenntnissen aus dem Weg, indem wir unsere Welt (meistens ohne es zu merken) verkomplizieren. Deswegen sollten wir lernen, Einfachheit zu mögen.
Absichtlich komplizierte Strukturen
Einfachheit macht es einfach, Zusammenhänge zu erkennen. Sie kann auch unsere verborgenen Gefühle aufzeigen, denn der Charakter unseres emotionalen Seelenlebens ist meisten einfach gestrickt: Wir haben Angst, schämen uns, sind unehrlich oder verheimlichen romantische und naive Gefühle.
Unser Hang zur künstlichen Komplexität entlarvt uns als soziale und emotionale Trickbetrüger.
Wir blenden die unangenehmen und nicht schmeichelhaften Aspekte des Lebens aus oder formen sie um. Das Ausblenden oder Wegsehen funktioniert nur bedingt und muss ständig aufrechterhalten werden, das Umformen (das Verkomplizieren) kann hingegen dauerhaft sein.
Letztendlich geht es uns nur darum, so bequem wie möglich durchs Leben zu kommen, uns möglichst viele Vorteile zu sichern und die Unannehmlichkeiten zur Seite zu schieben. Wie uns das gelingt, ist unwichtig. Hauptsache, es funktioniert. Und solange wir uns selbst egal sind, werden wir an dieser Strategie zur Selbsttäuschung festhalten.
Mehr Interesse für uns selbst
Wir müssen lernen, uns mehr für uns selbst zu interessieren, für das, was wir tun und warum wir es tun. Das ist schwierig, da wir meistens gar nicht wissen, dass unser gesamtes Leben einer Show ähnelt, die wir für uns selbst und andere inszenieren.
Vieles von dem, was wir tun, fungiert als unterbewusstes Ablenkungsmanöver von unserem inneren (oder höheren) Selbst. Denn das weiß, dass wir uns selbst korrumpieren. Dieser Kontakt würde im weiteren Verlauf Veränderungen nach sich ziehen, die wiederum die eingefahrene Stabilität unseres Lebens bedrohen. Und das darf auf gar keinen Fall geschehen.
Und da Bequemlichkeit, Konformität und Kontinuität fast alles ist, was uns interessiert, öffnen wir uns selten freiwillig und bewusst, lassen wir nur dann neue Impulse in unser Leben eindringen, wenn die Umstände uns dazu zwingen oder wir sie mögen. Letzteres ist selten der Fall.
Es fehlt uns die nötige Einsicht, das Verständnis für die Gesamtzusammenhänge des Lebens in der Gemeinschaft. Erst damit wird es uns möglich sein, uns zu öffnen und Freude am Neuen und der Einfachheit empfinden zu können.
Dann brauchen wir keine komplexen, abstrakten Strukturen mehr, um uns dahinter verstecken zu können.
EIN BEISPIEL FÜR EINFACHHEIT: DAS ZIEGENPROBLEM