Kampf der Systeme
Viel zu oft verwenden wir zu viel Energie darauf, die politischen und wirtschaftlichen Systeme für die Missstände in der Welt verantwortlich zu machen. Die Energie, die wir bei der Bekämpfung dieser mangelhaften Staatsformen verbrauchen, fehlt uns dann, um das eigentliche Problem zu erkennen und anzugehen: unser Verhalten.
Inhalt
Wir hassen den Kapitalismus oder den Sozialismus, sehen im Neoliberalismus, bei den Linken oder im Nationalismus die Verursacher von Ungerechtigkeit und Leid in der Welt. Doch nichts davon, weder einzeln noch in Kombination, ist wirklich für den miserablen Zustand der Welt verantwortlich.
Die unterschiedlichen Staatsformen funktionieren in den verschiedenen Ländern unterschiedlich gut oder schlecht. Der wichtigste Faktor, der bestimmt, ob ein System gut oder schlecht funktioniert, sind wir selbst.
Wäre es tatsächlich nur eine Frage des Systems, müsste es längst eines geben, das das gesellschaftliche Leben für alle Menschen zufriedenstellend regelt.
Denn höchstwahrscheinlich wurden im Laufe der Menschheitsgeschichte bereits alle Systeme ausprobiert. Einige davon könnten tatsächlich das Potenzial besitzen, eine annähernd gerechte und friedliche Welt für alle zu schaffen. Doch mit unserem widersprüchlichen Verhalten zerstören wir diese Möglichkeit.
Missbrauch der Systeme
Systeme funktionieren ihrem Wesen nach wie Maschinen, die richtig oder falsch, positiv oder negativ eingesetzt werden können. Das beste Werkzeug wird zu einem Fluch, wenn es auf destruktive Weise verwendet wird. Daran hat das Werkzeug keine Schuld.
Scheren wurden beispielsweise erfunden, um bestimmte Materialien zu zerschneiden. Man kann mit ihnen aber auch Menschen erstechen. Trotzdem käme niemand auf die Idee, Scheren deshalb abzuschaffen oder zu verbieten. Die Schere wurde missbraucht und ist für die Tat nicht verantwortlich.
Für unsere Systeme und Institutionen gilt das Gleiche. Das Bankensystem, die Staatsformen, Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme sind von uns geschaffene Instrumente, Institutionen oder Einrichtungen. Sie funktionieren alle mehr oder weniger gut oder auch schlecht. Doch schnell haben wir gelernt, sie zu missbrauchen.
Schaffen wir beispielsweise den Kapitalismus ab und ersetzen ihn durch den Sozialismus, werden die Menschen, die zuvor den Kapitalismus missbraucht haben, nun den Sozialismus missbrauchen. Es ist daher besser, gar nicht erst nach dem optimalen System zu suchen. Wir werden es nicht finden, da es keines gibt.
Wäre der Faktor Mensch nicht im Getriebe unserer Systeme, könnten diese viel besser funktionieren. In der Insektenwelt lässt sich das beobachten: Dort will keine Ameise, Biene oder Termite etwas anderes oder mehr als das, was von Geburt an ihre Aufgabe ist.
Im Insektenreich gibt es keine Selbstsucht, keine Individualität und keine Heuchelei. Kein Insektenstaatbewohner entwickelt im Laufe seines Lebens persönliche Ambitionen. Das erzeugt zwar Stabilität und Langlebigkeit, macht Weiterentwicklung jedoch unmöglich.
Das wahre Problem ist unser Verhalten
Die Menschen, die vor Ort sind, tragen die Verantwortung für das, was vor Ort geschieht.
Die eigentlichen Probleme sind nicht unsere mangelhaften Systeme, sondern unser widersprüchlicher Charakter: Wir kritisieren ständig die Fehler anderer und sind blind für unsere eigenen. Wir wollen ständig etwas haben, geben anderen aber selbst nur ungern etwas. Wir sind selten bereit, uns ehrlich aufeinander einzulassen. Viel zu oft werfen wir anderen vor, was wir selbst tun. Und großzügig sind wir nur dann, wenn wir es uns leisten können oder davon indirekt profitieren. Natürlich sind wir nicht alle so, doch leider viel zu viele.
Wenn ein Künstler andere Menschen für die schlechte Qualität seiner Kunstwerke verantwortlich macht, schütteln wir wahrscheinlich verständnislos den Kopf. Doch die Vorstellung, dass eine kleine Minderheit (die sogenannten 10.000 Obersten der Welt) das Geschehen in der Welt bestimmt und für die meisten Missstände verantwortlich ist, gefällt uns. Denn wir persönlich gehören dieser Minderheit nicht an und bleiben deswegen aus der Schusslinie.
Entdecken wir an uns selbst Gleichgültigkeit und Egozentrik oder manchmal auch ungerechtes Denken und Handeln, rechtfertigen wir uns, indem wir behaupten, in diesem System zu diesem Verhalten gezwungen zu sein, um überleben zu können.
Doch schlechte Systeme können gute Menschen niemals so weit korrumpieren, selbst gravierend Schlechtes zu tun. Geschieht das doch, waren diese Menschen gar nicht gut: Sie haben nur so getan oder es nur geglaubt.
Leugnung und Fremschuldzuweisung
Kapitalismus, Kommunismus, freie Marktwirtschaft, das Bankensystem, Neoliberalismus, Geheimbünde, Weltverschwörungen, Theismus, Atheismus, aber auch … Ausländer, Juden und sogar Außerirdische sind die Übeltäter in dieser Welt.
Allem, absolut allem geben wir die Schuld – nur uns selbst nicht!
Selbstverständlich sind wir nicht alle Opportunisten und Heuchler. Es gibt viele Menschen, die grundsätzlich friedlich und freundlich durchs Leben gehen und nur dann auf Gewalt zurückgreifen, wenn sie sich gegen körperliche Angriffe wehren müssen. Unabhängig davon lehnen sie es ab, ihr Leben auf Kosten anderer durch Diebstahl, Betrug, Lüge, Heuchelei oder Gewalttaten zu gestalten.
Doch solche Menschen gibt und gab es schon immer. Sie sind allerdings eine Minderheit. Die wichtige Frage lautet deshalb: Nimmt der Anteil der grundsätzlich friedlichen und freundlichen Menschen im Laufe der Zeit zu oder bleibt er gleich?
Wahrscheinlich nimmt er zu – wenn auch nur langsam. Denn alles entwickelt sich im Laufe seiner Existenz weiter, auch der Charakter der Menschheit als Ganzes. Es ist demzufolge nur eine Frage der Zeit, selbst wenn es noch Jahrtausende dauern sollte, bis die allermeisten Menschen ein friedliches und freundliches Gemüt besitzen.
Mehr Menschenfreundlichkeit
Es gibt viele Menschen, die friedlich leben wollen und es auch tun, selbst wenn sie arm sind und es immer bleiben werden. Diese fühlen sich unwohl, wenn es anderen schlecht geht, während sie selbst im Wohlstand leben.
Woran liegt es also, dass ein Teil von uns raubt, plündert, mordet, vergewaltigt und ausbeutet? Warum ist so vielen Menschen das Leid ihrer Mitmenschen egal?
Dafür gibt es unterschiedliche Gründe, allgemeine und spezielle. Ein spezieller Grund ist: Wenn wir in unserer Kindheit und Jugend viel Gewalt und Ungerechtigkeit erlebt haben, kompensieren wir diese traumatischen Erfahrungen nicht selten im späteren Leben durch eigene Gewalttaten und Ungerechtigkeiten. Um seelisch stabil bleiben zu können, „desensibilisieren“ wir uns selbst. Dieser Mechanismus ist bekannt.
Allerdings gibt es genügend Beispiele, die das Gegenteil zeigen: Gewaltopfer können im Erwachsenenalter – trotz ihrer schrecklichen Kindheit – friedliche, freundliche und verständnisvolle Menschen sein, nicht selten sogar aufgrund dieser schrecklichen Kindheitserfahrungen.
Wer eine schlimme Kindheit und Jugend hatte, kann trotzdem ein menschenfreundlicher und kreativer Erwachsener werden. Es kommt also auf uns selbst an, auf unser Bewusstsein und unsere Selbstwahrnehmung.
Sensibilisierung und Interesse
Ein allgemeiner Grund ist: Die primäre Beschaffenheit unseres Bewusstseins, unserer Psyche als Mensch, ist noch relativ primitiv und hat viele archaische Aspekte. Wir haben uns ja aus der Tierwelt entwickelt, und in der Tierwelt gibt es kein Erbarmen und kein Mitfühlen mit anderen Lebewesen – außer für die eigenen Nachkommen und Verwandten (und das auch nicht immer).
In vielen Punkten sind wir dem Tier also noch ähnlich: Auch uns ist das Leid fremder Lebewesen meistens egal, denn unser animalischer Überlebensinstinkt verbietet Rücksichtnahme auf die Interessen anderer.
Warum hat ein Teil aller Menschen kein Problem damit, das eigene Leben auf Kosten anderer zu gestalten, während ein anderer Teil diese Vorgehensweise grundsätzlich ablehnt? Denn wir dürfen nicht vergessen:
Friedlichkeit ist keine Kunst
Friedlichkeit und Freundlichkeit sind keine „Kunststücke“, die schwer zu erlernen sind. Es ist viel einfacher, einem anderen Menschen nichts anzutun als umgekehrt.
Warum wollen nicht alle Menschen eine friedliche und freundliche Welt? In einer solchen lebt es sich doch viel besser. Es ist eines der größten Rätsel dieser Welt. Wir sind die am weitesten entwickelte Spezies auf diesem Planeten und besitzen Fähigkeiten, mit deren Hilfe wir sprichwörtliche Wunder vollbringen. Wir fliegen zu anderen Planeten, berechnen den Anfang des Universums, erforschen die Strukturen von Atomen und vollbringen noch viel größere Leistungen.
Doch geht es darum, friedlich und freundlich zu sein (was wirklich sehr einfach ist und keine besonderen Fähigkeiten voraussetzt), versagen wir kläglich. Das zeigt, dass wir nicht wirklich verstehen, was Friedlichkeit und Freundlichkeit eigentlich sind: die Voraussetzungen für ein kreatives und erfülltes Leben.
Fazit
Wir Menschen haben die außergewöhnliche Fähigkeit, unser Verhalten zu reflektieren und daraus zu lernen. Doch oft wird diese Fähigkeit durch Egoismus, Gier oder Bequemlichkeit blockiert. Nur wenn wir Verantwortung für unser Tun übernehmen, können wir die Qualität unseres Zusammenlebens verbessern.
Ein System allein wird uns nie die perfekte Welt liefern. Es sind die Menschen, die innerhalb dieses Systems handeln, die es formen. Wenn wir beginnen, unsere eigene Verantwortung ernst zu nehmen, anstatt die Schuld immer bei äußeren Umständen oder anderen Personen zu suchen, können wir tatsächlich etwas verändern.
Es gibt kein System, das alle Probleme der Menschheit lösen kann. Jedes System hat seine Stärken und Schwächen. Historische Beispiele zeigen immer wieder, dass Systeme, die anfangs Fortschritt und Stabilität brachten, später missbraucht oder durch innere Widersprüche zerstört wurden.
Die Illusion des perfekten Systems
Der Wunsch nach einem perfekten System ist daher eine Illusion. Es liegt an uns, das Beste aus den bestehenden Gegebenheiten zu machen und ständig daran zu arbeiten, sie zu verbessern – in kleinen, alltäglichen Schritten.
Ein System mag uns einen Rahmen geben, aber es ist letztlich der Mensch, der entscheidet, wie dieser Rahmen genutzt wird: für den Aufbau oder für die Zerstörung.
Trotz aller Probleme gibt es Grund zur Hoffnung. Der Fortschritt in vielen Bereichen – Wissenschaft, Technologie, Menschenrechte – zeigt, dass wir uns als Menschheit weiterentwickeln können. Es ist jedoch ein langsamer Prozess, der Geduld und Durchhaltevermögen erfordert.
Die wahre Veränderung beginnt im Einzelnen. Es sind unsere Werte, unsere Einstellungen und unser Handeln, die den Unterschied machen. Wenn mehr Menschen erkennen, dass sie selbst Teil der Lösung sein können, anstatt nur auf Fehler im System oder bei anderen hinzuweisen, wird die Welt ein besserer Ort.
Am Ende liegt die Macht bei uns: bei jeder einzelnen Entscheidung, die wir treffen.
WIR SIND NICHT WIRKLICH ERWACHSEN