Wir sind nicht wirklich erwachsen
Als Erwachsene sind wir nur Jugendliche in einem Erwachsenenkörper.
Inhalt
Als Kinder und Jugendliche sind wir noch unreif und unwissend. Aufgrund dieser Defizite verhalten wir uns oft unvernünftig, denn uns fehlt die nötige Lebenserfahrung, die uns hilft, unvernünftiges Verhalten zu vermeiden.
Sind wir dann erwachsen, sollten wir dazu eigentlich fähig sein – doch das ist leider nur teilweise so: Wir sind jetzt zwar im Umgang mit Gegenständen und unserem Körper geschickter und wissen, in bestimmten Situationen (beim Gehen und Laufen, beim Hantieren, Greifen, Halten, Überreichen, Tragen und Hinstellen von Gegenständen etc.) vorsichtig und konzentriert sein zu müssen, damit wir nicht ständig etwas kaputt machen oder uns verletzen.
Unser allgemeines Verhalten als verantwortungsvolle und vernunftbegabte Menschen in einer offenen Gesellschaft ist oft aber immer noch ähnlich unreif wie das eines Kindes. Woran könnte das liegen?
Kinderspielzeuge für Erwachsene
Vorausgesetzt, wir leiden nicht unter Ernährungsmangel, wachsen und reifen unsere Körper selbstregelnd aus – unsere Psyche, unser Bewusstsein jedoch nicht. Als Erwachsene erfüllen wir uns oft Wünsche, die uns in unserer Kindheit verwehrt waren.
Es gibt beispielsweise Männer, die leidenschaftlich mit Eisenbahnen spielen – eigentlich ein Kinderspielzeug. Sie durften in ihrer Kindheit vielleicht nicht oft genug damit spielen und holen dieses Bedürfnis jetzt wie unter einem Zwang nach.
Und viel zu oft sind unsere Autos, Computer, Handys usw. ebenfalls nur Instrumente und Spielzeuge zum Zeitvertreib. Wir machen das, was wir schon als Kinder gemacht haben, jetzt allerdings in einem größeren Stil. Das ist schon der ganze Unterschied. Wir haben also nicht wirklich unsere Kindheit hinter uns gelassen.
Spätpubertäres Verhalten bei Erwachsenen
Gewalttätige Rocker, Hooligans, prügelnde Fußballfans, Gangster-Rapper (und auf eine spezielle Weise auch Neonazis) sind eine andere Art von »Kinder in einem Erwachsenenkörper«. Sie führen sich im Erwachsenenalter wie pubertierende Jugendliche auf und scheinen in einer Entwicklungsphase stecken geblieben zu sein, in der man sich selbst als den Größten, Coolsten und Stärksten empfinden, weil man kein Kind mehr ist.
Normalerweise beenden wir diese Angeber-Phase zum Ende der Adoleszenz, doch manchmal schleppen wir sie auch in unser Erwachsenendasein hinein. Dann kann es passieren, dass wir uns lebenslang wie die sprichwörtlichen Halbstarken aufführen.
Schlechte Vorbilder für Jugendliche und Kinder
Unsere geistig-seelische, mentale und intellektuelle Entwicklung ist abhängig von unserem sozialen Umfeld, das sich aus Eltern, Lehrern, Medien, Vorbildern oder Freunden zusammensetzt.
Sind diese Vorbilder jedoch selbst unreif und widersprüchlich (was mehr oder weniger die Regel ist), überträgt sich dieses Entwicklungsdefizit auf die Heranwachsenden. Unsere Entwicklung zu authentischen und psychisch autarken Individuen wird dadurch erschwert oder sogar verhindert.
Es gibt Ausnahmen, in denen Kinder und Jugendliche nicht die schlechten Eigenschaften ihres Umfeldes annehmen. Manchmal sind Kinder geistig bereits reifer als ihre erwachsenen Autoritätspersonen. Das ist eine interessante Beobachtung und zeigt, wir sind nicht immer den negativen Einflüssen unseres sozialen Milieus ausgeliefert: Es kommt auf den Einzelnen an, auf den Grad unserer Resilienz.
Das entfesselte Kind
Wenn wir erwachsen sind, dann meistens nur körperlich. In unserem Inneren sich wir nach wie vor Kinder, allerdings mit den Möglichkeiten eines Erwachsenen.
Und darauf haben wir jahrelang gewartet: Jetzt dürfen wir das tun, was wir schon immer tun wollten, uns aufgrund unserer Unmündigkeit und körperlichen Unterlegenheit jedoch verboten oder nicht möglich war.
Das macht uns als (Pseudo-)Erwachsene mit unserem Nachholbedürfnis so gefährlich und unberechenbar. All die Demütigungen, Zurückweisungen und Entbehrungen (ob zu Recht oder nicht), die wir in unserer Jugend und Kindheit hinnehmen mussten, kompensieren wir jetzt:
Wir müssen uns nicht mehr alles gefallen lassen (sind nicht mehr schwach wie ein Kind), wir können jetzt Dinge unser Eigen nennen, die wir schon immer haben wollten (wir besitzen Geld), wir bekommen jetzt die Anerkennung, die uns früher verwehrt wurde (man respektiert uns, sieht uns als gleichberechtigt an).
Doch da wir in unserem Inneren immer noch unreif sind, sind es auch unsere Ansprüche und Intentionen.
Keine Lust auf wirkliches Erwachsensein
Als Erwachsene könnten wir eigentlich wissen, dass man uns in unserer Kindheit eher selten absichtlich ungerecht behandelt hat. Die Erwachsenen, die uns zu Recht oder zu Unrecht einschränkten und maßregelten, standen unter Zugzwang.
Manchmal meinten sie es gut und handelten trotzdem falsch, manchmal wussten sie es nicht besser oder waren hilflos und merkten nicht, dass ihre traditionellen Erziehungsmethoden Schlimmes anrichteten. Oft taten sie aber das Richtige, doch es gefiel uns nicht oder wir erkannten es nicht.
Das könnten wir als Erwachsene wissen, doch da wir bisher stets nur daran interessiert waren, so schnell wie möglich unsere »Nicht-Erwachsenenzeit« hinter uns zu bringen, haben wir dafür kein Verständnis. Endlich sind wir dort, wo wir uns uneingeschränkt entfalten können – und das ist alles, was uns interessiert. Jetzt sind wir an der Reihe und können das tun, was uns bisher untersagt war.
Falsche Motivationsgrundlage
Wenn wir Macht und Besitztümer anhäufen, kompensieren wir meistens nur die Entbehrungen und Demütigungen unserer Kindheit. Wir wurden ungerecht behandelt – jetzt behandeln wir andere so. Wir mussten gehorchen – jetzt müssen andere uns gehorchen. Wir waren machtlos – jetzt haben wir die Macht über andere.
Als Erwachsene erwerben wir selten Macht, Besitz und Autorität, um einen kreativen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, sondern nur für unsere persönliche Befriedigung, Bereicherung und Genugtuung, nur um etwas zu sein, was wir in unserer Jugend nicht sein durften, nur weil wir in unserem Inneren immer noch unreif sind und die wirklichen Ursachen unserer Bedürfnisse nicht kennen. Ganz schön traurig!
UNSERE ETHISCHE WEITERENTWICKLUNG
Hervorragender Artikel. Ich hatte das Glück nicht allen Erwachsenen mein Vertrauen zu entziehen. Bekannte meiner Eltern haben mir Wege gezeigt mich mit Verstand (keine erniedrigenden Worte und dem nötigen Respekt zu agieren). Ich habe meine Gefühle aus der Kindheit behalten. Die Vorstellung wissentlich zu demütigen tut weh. Mein Satz für mich selbst heißt „Behandle andere so, wie auch du behandelt werden möchtest. Beurteilt haben Eltern und Lehrer schon genug. Christine
Ja, zum Glück gibt es so etwas hin und wieder mal. Leider sind das noch Ausnahmen. Doch ich habe den Eindruck, diese Ausnahmen nehmen zu. Immer mehr und mehr Eltern – besonders junge Mütter – legen viel Wert darauf, nicht die gleichen Fehler zu machen wie ihre Eltern. Sie helfen ihren Kindern ein emanzipiertes Leben zu leben – so weit das möglich ist. Allerdings bedarf es dafür ein relativ entspanntes soziales Umfeld. Und das findet man meistens nur in den Ländern, in denen jeder so leben darf, wie es ihm beliebt (solange er nicht gegen die wichtigen Gesetze und Regeln verstößt). Wenn dieser Trend also nicht abbricht, bin ich sehr optimistisch für unsere Zukunft.
Michael
Man wird als Erwachsener aber auch mit den mitunter drastischen Auswirkungen von Fehlentscheidungen konfrontiert die man nicht auf andere die bösen Erwachsenen abschieben sondern selber ausbaden muss. Dass man diese Entscheidungen im Vorfeld mit gutem Gewissen und nach reiflicher Ueberlegung getroffen hat ändert leider nichts an den Auswirkungen. Nun dass gehört halt auch zur Bürde des Erwachsenenseins.