
Das Nützlichkeitsprinzip
Seitdem Menschen in Gemeinschaften leben, ist es üblich, dass jedem eine bestimmte Funktion zugewiesen wird. Diese Aufgabe bestimmt unseren sozialen Wert und Status. Je besser jemand seine Tätigkeit ausübt, desto effektiver funktioniert das gemeinschaftliche Zusammenleben.
Im Idealfall übernimmt jeder eine Aufgabe, die seinen Fähigkeiten und Interessen entspricht. Dieses System der Arbeitsteilung und Aufgabenzuweisung hat sich bewährt und sichert seit Jahrtausenden die gesellschaftliche Stabilität.
Inhalt
Starb in der Vergangenheit ein Berufszweig aus, wurde er schnell durch einen neuen ersetzt. Neue Bedürfnisse und technische Entwicklungen führten zu neuen Berufen, sodass langfristig niemand ohne Beschäftigung blieb – jeder hatte einen Platz in der Gesellschaft und leistete einen wertvollen Beitrag.
Dieses Werte-Nützlichkeits-Prinzip hat in der Vergangenheit gut funktioniert. Doch für die Gestaltung einer zukünftigen, globalen Welt ist es nicht mehr geeignet. Denn die wichtigste Voraussetzung, die es benötigt, wird bald wegbrechen: ausreichend Arbeitsplätze für alle Menschen weltweit.
Das Versagen der Nützlichkeit
In 100 Jahren werden fast alle Produkte von autonomen Maschinen hergestellt. Menschen in der Produktion werden überflüssig sein.
Arbeitsmangel gab es zwar schon immer. Auch in der Antike und im Mittelalter gab es Perioden, in denen die Bevölkerung darunter litt – mit Hungersnöten und Elend als Folgen.
Damals waren es Missernten, verfehlte Politik oder strukturelle Defizite, die den Mangel verursachten. Doch der Arbeitsmangel der Zukunft wird eine andere Ursache haben: Die Automatisierung der Produktionsprozesse macht menschliche Arbeitskraft zunehmend überflüssig.
In einigen Branchen ist das bereits heute deutlich sichtbar. Die Automobilindustrie kommt mit einem Bruchteil der Arbeitskräfte aus, die noch vor 60 Jahren benötigt wurden. In der Landwirtschaft übernehmen Erntemaschinen die Arbeit, während moderne Holzerntemaschinen (sog. Harvester) Bäume zehnmal schneller fällen als Menschen. Die Industrierobotik entwickelt sich rasant weiter – und es gibt keinen Grund zu glauben, dass diese Entwicklung aufhören oder sich verlangsamen wird.
Automatisierung der Produktionsprozesse
Zwar heißt es oft, dass wegfallende Arbeitsplätze in der Produktion durch neue im Dienstleistungssektor ersetzt werden, doch dieser wird die frei werdenden Arbeitskräfte nur zu einem eher geringen Teil aufnehmen können. Nicht jeder kann Altenpfleger, Kellner, Verkäufer, Gärtner oder Softwareentwickler sein.
Auch neue Industriezweige, etwa die Solarenergie, werden nur begrenzt Arbeitsplätze schaffen. Da dort von Anfang an automatisiert produziert wird, ist der Personalbedarf gering.
Schon bald wird es kaum noch Tätigkeiten geben, die nicht auch von Maschinen, Robotern oder Computern übernommen werden können. Warum einen menschen nehmen, wenn Maschinen die gleiche Arbeit kostengünstiger und effizienter verrichten?
Irgendwann einmal (auch wenn erst in ein paar Tausend Jahren) werden Menschen keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen müssen, um sich ihr Leben gestalten zu können. Nichts wird mehr so sein wie in unsere Arbeits- und Kapitalgesellschaft. Neunundneunzig Prozent aller Menschen werden sozusagen arbeitslos sein. Da sie weder finanzielle noch soziale Probleme haben, können sie ihr Leben frei von irgendwelchen Vorgaben und Zwängen leben und gestalten.
Das eine Prozent (wahrscheinlich aber deutlich weniger), das nicht „arbeitslos“ ist, überwacht eine vollständig automatisierte, robotisierte und computerisierte Welt. In dieser hochentwickelten Infrastruktur steuern autonome Produktionsanlagen den gesamten Herstellungs- und Verteilungsprozess sämtlicher benötigter Güter – von Nahrung und Kleidung über Wohnraum und Energieversorgung bis hin zu technologischen Geräten und medizinischer Versorgung. Die Produktionssysteme agieren selbstoptimierend und passen sich in Echtzeit an die Bedürfnisse der Menschheit an, ohne dass direkte menschliche Arbeit erforderlich ist.
Nützlichkeit und Selbstwahrnehmung
Die Kurzbeschreibung des gegenwärtig vorherrschenden Menschentyps lautet: konkurrenzorientiertes Einzelwesen mit mangelhafter Empathiefähigkeit. Die Kurzbeschreibung des zukünftigen Menschentyps hingegen muss lauten: emanzipiertes Individuum, das sich aktiv für seine Mitmenschen und die Gesellschaft interessiert.
Von diesem Ideal sind wir jedoch noch weit entfernt. Wir verstehen zwar, was damit gemeint ist, halten den Gedanken aber für utopisch – vielleicht sogar für naiv. „So ist der Mensch nicht und wird es niemals sein“, sagen wir uns.
Der erste Halbsatz trifft zu, doch er beschreibt lediglich unsere Vergangenheit und Gegenwart. Der zweite jedoch spiegelt eine pessimistische Lebenseinstellung wider. Denn es gibt keine Erfahrungswerte, die belegen, dass sich die Menschheit als Ganzes niemals grundlegend wandeln wird. Alles, was existiert, entwickelt sich im Laufe der Zeit – also auch die Menschheit.
Der Wandel unserer Selbstwahrnehmung – also die Art, wie wir unser Menschsein, unsere vermeintliche Rolle in der Gesellschaft und letztlich unsere Stellung in der Welt begreifen – ist daher nur eine Frage der Zeit. Noch sind wir größtenteils Einzelkämpfer und kooperieren mit anderen nur, wenn es uns einen Vorteil bringt. Doch diese Denkweise muss der Vergangenheit angehören.
Andere Menschen haben für uns einen Wert (sind „nützlich“), wenn sie uns etwas bedeuten. Das gilt für unsere Familie, da wir eine emotionale, soziale und möglicherweise auch biologische Affinität zu ihr haben. Sie ist wichtig für unser mentales Gleichgewicht.
Deshalb tun wir für Familienmitglieder und enge Freunde Dinge, die wir für Fremde niemals täten. Vollkommen fremde Menschen hingegen haben für uns keinen unmittelbaren Wert. Ihr Leid berührt uns nicht, weil es unsere soziale Situation nicht beeinflusst – also kann es uns gleichgültig sein.
Abschaffung des Nützlichkeitsprinzips
Die Einteilung der Menschheit in Kategorien wie Schwarze, Weiße, Asiaten, Ausländer, Einheimische, Juden, Muslime, Christen, Buddhisten oder Atheisten hat in einer globalen Welt keine Funktion mehr.
Diese Unterscheidungen und Wertungen – die Einteilung in nützlich und nutzlos, gleich und ungleich, verwandt und fremd – müssen der Vergangenheit angehören. Sie sind mitverantwortlich für den desolaten Zustand der Welt.
Bevor wir unser egozentrisches Selbstverständnis ändern können, müssen wir das zunächst begreifen. Der erste Schritt in diese Richtung ist die Abschaffung solcher Menschenkategorien – eine Herausforderung, aber eine notwendige. Die darauffolgenden Schritte sind vergleichsweise einfach:
Wer Hautfarbe, Herkunft oder Religion eines Menschen als irrelevant betrachtet, dem wird es auch gleichgültig sein, ob jemand reich oder arm, dick oder dünn, klug oder weniger klug ist. Diskriminierung würde drastisch abnehmen. Und wer nicht diskriminiert, benachteiligt oder verfolgt wird, muss sich weder verteidigen noch verstecken. Er kann mit einem entspannten Blick auf die Welt und das Leben blicken – und die frei gewordenen mentalen Ressourcen für kreative Dinge nutzen.
Das Tabu der Nutzlosigkeit
Die Voraussetzung für die „Entkategorisierung der Menschen“ ist die Erkenntnis, dass andere Menschen wir selbst sind – denn Leid fühlt sich für alle gleich an.
Leidet ein fremder Mensch, empfindet er dasselbe, was wir empfinden, wenn wir leiden. Und als empathiebegabte Lebewesen sollte uns das nicht gleichgültig sein. Wir müssen begreifen, dass es keinen Unterschied macht, ob Schmerz, Elend und Leid bei uns oder anderswo existieren. Nur weil sie nicht unmittelbar vor unseren Augen geschehen, sind sie nicht weniger real – und früher oder später können sie auch uns betreffen.
Wenn wir nur versuchen, die unangenehmen Aspekte des Lebens von uns fernzuhalten, bekämpfen wir nicht die Ursache, sondern nur die Symptome.
Das Leid, das wir aus unserem Leben verbannen, sucht sich einen anderen Wirt. Doch dort wird es genauso wenig geduldet wie bei uns – und auf Umwegen kehrt es schließlich zurück.
Die Behauptung „Du fühlst dich für dich in deinem Inneren genauso an, wie ich mich für mich in meinem Inneren anfühle“ ist eine Hypothese, die sich zwar nicht beweisen lässt, aber dennoch einleuchtend ist. Denn warum sollte die innere Wahrnehmung eines Menschen (sofern keine tiefgreifenden Bewusstseinsstörungen vorliegen) grundsätzlich anders sein als die eines anderen? Es gibt keine Erfahrungswerte, die eine solche Annahme rechtfertigen würden.
Solange das so ist, bleibt es vernünftig, davon auszugehen, dass wir im Inneren tendenziell gleich sind – unabhängig von unserem Aussehen oder davon, in welcher Region der Erde wir geboren und aufgewachsen sind.
Das Leid fremder Menschen ist unser Leid
Es spielt keine wesentliche Rolle, ob man man selbst ist oder ein anderer ein anderer – denn die innere Perspektive des anderen ist mit der eigenen identisch.
Wir müssen lernen, uns in andere hineinzuversetzen – insbesondere in fremde Menschen. Doch solche Gedanken sind uns meist fremd. Solange wir nur unser eigenes Leid als solches empfinden, wird sich daran nichts ändern. Deshalb müssen wir es irgendwie schaffen, empathischer zu werden. Doch so, wie unser Seelenleben momentan beschaffen ist, scheint das beinahe unmöglich.
Eine einfache Lösung für dieses Problem gibt es nicht. Es läuft darauf hinaus, dass möglichst viele Menschen innerhalb eines engen Zeitrahmens eine individuelle Reifung durchlaufen. Jeder Einzelne muss diese Entwicklung aus eigener Anstrengung vollziehen – ohne Abkürzungen, ohne Tricks.
Für die älteren Generationen ist dieser Wandel kaum noch realisierbar. Wir haben unsere Nische gefunden, aus der wir bequem durch unsere Bildschirme auf die Welt blicken – froh darüber, vom Elend und Irrsinn da draußen verschont zu bleiben. Also wird es an unseren Kindern und Enkeln liegen, diese Aufgabe zu übernehmen.
Würde statt Nützlichkeit
Es gibt Menschen, die viel für die Gesellschaft tun, und andere, die scheinbar nichts beitragen. Daraus leiten wir oft ihren Wert oder ihre Nützlichkeit ab. Doch Nützlichkeit ist ein Begriff, der aus der Gebrauchsfähigkeit von Dingen stammt – und sollte daher nicht auf Menschen angewendet werden.
Das Adjektiv „wertvoll“ sollte besser Gegenständen vorbehalten bleiben, etwa Werkzeugen, Fahrzeugen oder Geräten. Bei Menschen ließe sich eher „kreativ“ verwenden – doch idealerweise verzichten wir ganz auf solche Kategorisierungen.
In der Zukunft sollte niemand mehr als wertvoll oder wertlos für die Gesellschaft betrachtet werden. Denn ob ein Mensch wirklich „nützlich“ oder „unnütz“ ist, lässt sich nicht objektiv beurteilen – und sollte auch keine Rolle mehr spielen.
Menschen sind kein Werkzeug
Oft wurden in der Geschichte viele Menschen als unnütz betrachtet – nur um später als entscheidend für den Fortschritt der Menschheit erkannt zu werden. Umgekehrt erwiesen sich manche als unverzichtbar gepriesene Personen im Nachhinein als Katastrophe.
Was uns heute als unbrauchbar erscheint, kann sich morgen als Segen erweisen – und umgekehrt. Niemand weiß im Voraus, welche Entwicklungen für die Menschheit wirklich bedeutend sind. Deshalb sollten wir Menschen nicht nach ihrer Nützlichkeit oder Brauchbarkeit bewerten, sondern nach Friedlichkeit und Freundlichkeit. Denn, wie gesagt: Mehr braucht die Welt nicht. Daraus ergibt sich eine provokante Erkenntnis:
Die Zukunft braucht möglichst viele „unnütze“ Menschen – denn in Wahrheit gibt es keine gar unnützen Menschen, sondern nur unnütze Dinge. Und Menschen sind keine Dinge.
Was auf den ersten Blick nach Nutzlosigkeit aussieht, kann in Wirklichkeit verborgenes kreatives Potenzial sein, das erst später erkannt wird. Daher sollten wir vorsichtig sein, bevor wir jemanden als wertlos abstempeln.
Vielleicht ist die höchste Qualität, die ein Mensch besitzen kann, genau diese: absolute Nutzlosigkeit. Vielleicht ist das größte Kompliment, das man jemandem machen kann, zu sagen: „Du bist vollkommen nutzlos – du bist zu nichts zu gebrauchen.“
Wenn wir das eines Tages verstehen, steht uns als globale Menschheit eine gute Zukunft bevor.