Glau­bens­sa­chen


Eine Frau geht in einem Wald spazieren. Am Wegesrand liegt eine 5 Meter große runde Kugel, die ein Gesicht zu haben scheint.

Glau­be an alles Mög­li­che

Reli­giö­ser und nicht-reli­giö­ser Glau­be prä­gen unser Leben in erheb­li­chem Maße. Oft mes­sen wir unse­ren ima­gi­nier­ten Wer­ten mehr Bedeu­tung bei als der rea­len Welt, denn die­se emp­fin­den wir häu­fig als unzu­rei­chend oder unbe­frie­di­gend. So erschaf­fen wir uns ver­schie­de­ne Glau­bens­wel­ten, in denen wir uns auf unter­schied­li­che Wei­se bewe­gen.

Unse­re Abnei­gung gegen­über der nack­ten Rea­li­tät ist nach­voll­zieh­bar. Das Leben kann hart, ent­täu­schend und vol­ler Leid sein. Die Flucht in ima­gi­nä­re Wel­ten erscheint daher als ein nahe­lie­gen­des Mit­tel, um Trost oder Sinn zu fin­den.

Die größ­te und wohl bedeu­tends­te die­ser alter­na­ti­ven Glau­bens­wel­ten ist das Jen­seits – der reli­giö­se Him­mel, eine mytho­lo­gi­sche Exis­tenz­sphä­re, von der wir hof­fen, sie nach unse­rem Tod betre­ten zu kön­nen. Die­se Vor­stel­lung spen­det Trost und kann dazu bei­tra­gen, unser Leben trotz inne­rer Lee­re oder exis­ten­zi­el­ler Zwei­fel nicht vor­zei­tig zu been­den.

Glau­be, Hof­fen, Wün­schen

Irgend­je­mand sag­te ein­mal sinn­ge­mäß: „Wür­den wir mit abso­lu­ter Sicher­heit wis­sen, dass es kein Leben nach dem Tod gibt, wür­de sich jeder Zwei­te das Leben neh­men.“ Denn wozu eine unbe­frie­di­gen­de und quä­len­de Exis­tenz lebens­lang aus­hal­ten, wenn sich die­se Stra­pa­ze sowie­so nicht aus­zahlt?

Wir hal­ten den­noch durch, weil wir auf eine bes­se­re Exis­tenz nach dem Tod hof­fen und zugleich die mög­li­chen Kon­se­quen­zen fürch­ten, die ein vor­zei­ti­ges Ende mit sich brin­gen könn­te. Die Aus­sicht auf Beloh­nung oder die Angst vor Bestra­fung beein­flus­sen unser Ver­hal­ten mehr, als wir uns oft ein­ge­ste­hen wol­len.


Der Glau­be, dass es Wis­sen ist

Die einen glau­ben an einen Gott, die ande­ren dar­an, dass es kei­nen geben kann. Wie­der ande­re glau­ben an Außer­ir­di­sche, UFOs, Geheim­bün­de oder Welt­ver­schwö­run­gen.

Man­che set­zen ihr Ver­trau­en in Sagen und Mythen, poli­ti­sche Ideo­lo­gien, Deter­mi­nis­mus oder das Schick­sal. Selbst wer behaup­tet, an nichts zu glau­ben, glaubt mög­li­cher­wei­se an die Wis­sen­schaft oder den Ratio­na­lis­mus. Vie­le sind über­zeugt, den Durch­blick zu haben – wäh­rend alle ande­ren als gehirn­ge­wa­schen, ver­blen­det oder igno­rant gel­ten.

All die­se Glau­bens­for­men haben eines gemein­sam: den Glau­ben, dass sie Wis­sen sind. Doch in Wirk­lich­keit sind es ledig­lich Über­zeu­gun­gen – und die­se müs­sen nicht zwangs­läu­fig rich­tig sein. Unse­re bestechen­de Logik lau­tet oft:

Da ich es glau­be, ist bewie­sen, dass es wahr sein muss, denn wäre es das nicht, wür­de ich es auch nicht glau­ben!

Wir gehen davon aus, eine Art „Wahr­heits­kom­pass“ zu besit­zen oder gar selbst ein Wahr­heits­de­tek­tor zu sein. Dies ver­leiht uns – zusam­men mit unse­rem selbst attes­tier­ten gesun­den Men­schen­ver­stand – die ver­meint­li­che Fähig­keit, als Lai­en kom­ple­xe The­men bes­ser beur­tei­len zu kön­nen als Exper­ten, die sich jahr­zehn­te­lang inten­siv damit beschäf­tigt haben.

Die Abwehr­re­ak­ti­on

Die­se Selbst­über­schät­zung resul­tiert aus unse­rer Unfä­hig­keit, Gedan­ken und Mei­nun­gen ange­mes­sen zu rela­ti­vie­ren und in Bezie­hung zu ande­ren Sicht­wei­sen zu set­zen. Hal­ten wir unse­ren Glau­ben – ob reli­gi­ös oder nicht – für eine aprio­ri­sche Wahr­heit, fehlt uns oft die Bereit­schaft oder Fähig­keit, ihn kri­tisch zu hin­ter­fra­gen. War­um auch? Schließ­lich ist er unser Glau­be – also muss er wahr sein. Doch letzt­lich han­delt es sich dabei nur um eine Form der Selbst­hyp­no­se.

Macht man uns dar­auf auf­merk­sam, dass „Glau­be“ eine Annah­me oder Ver­mu­tung ist – je nach Tem­pe­ra­ment viel­leicht auch eine Hoff­nung, Über­zeu­gung oder Wunsch­pro­jek­ti­on –, stim­men wir dem viel­leicht zu, jedoch mit der Ein­schrän­kung, dass unser eige­ner Glau­be eine Aus­nah­me dar­stellt.

Natür­lich ver­tei­di­gen wir unse­ren Glau­ben mit allen Mit­teln. Ohne ihn füh­len wir uns ori­en­tie­rungs­los oder gar schutz­los in der Welt. Die Vor­stel­lung, unse­re Über­zeu­gun­gen könn­ten bloß eine Form des Wün­schens oder Hof­fens sein, miss­fällt uns. Daher ver­mei­den wir eine tie­fe­re Aus­ein­an­der­set­zung mit ihnen – eine ana­ly­ti­sche Dis­kus­si­on mit uns als Glau­ben­den wird somit unmög­lich.

All­er­gisch gegen Fra­gen und Kri­tik

Wer unse­ren Glau­ben infra­ge stellt, wird schnell als absicht­li­cher Irre­füh­rer abge­stem­pelt. Alter­na­tiv betrach­ten wir ihn als jeman­den, der „noch nicht so weit ist“ und die Wahr­heit ent­we­der noch nicht erkannt hat oder sich ihr bewusst ver­schließt. In extre­men Fäl­len gilt der Kri­ti­ker gar als „Agent böser Mäch­te“ – sei es ein Sata­nist, ein außer­ir­di­scher Inva­sor oder eine von dunk­len Kräf­ten gesteu­er­te Mario­net­te.

Die­se Abwehr­hal­tung ist eine Art „men­ta­le Pro­gram­mie­rung“, die in Kraft tritt, sobald unser Glau­be an eine Gren­ze geführt wird, an der uns sein sub­jek­ti­ver Cha­rak­ter bewusst wer­den könn­te.

Angst vor der Ernüch­te­rung

Doch wenn unser Glau­be tat­säch­lich wahr wäre, hät­ten wir kei­nen Grund zur Angst, ihn auf die Pro­be zu stel­len – das müss­te uns als intel­li­gen­te Glau­ben­de klar sein. Wir soll­ten die­se Gren­ze freu­dig über­schrei­ten, um sei­ne Wahr­haf­tig­keit zu bewei­sen und ande­ren Men­schen näher­zu­brin­gen – egal ob mit oder ohne Sen­dungs­be­wusst­sein.

Eine Ana­lo­gie ver­deut­licht die­sen Wider­spruch: Ist ein Mathe­ma­ti­ker von der Rich­tig­keit einer For­mel über­zeugt, wird er sie veri­fi­zie­ren. Wei­gert er sich, besteht die Wahr­schein­lich­keit, dass er ihre Feh­ler­haf­tig­keit fürch­tet.

Tief in unse­rem Inne­ren wis­sen oder ahnen wir, dass unser Glau­be auf über­lie­fer­ten Mythen oder fixen Ideen basiert. Doch die­se Ein­sicht ver­mei­den wir bewusst. Auf lan­ge Sicht jedoch behin­dert uns die­se Ver­wei­ge­rungs­hal­tung in unse­rer per­sön­li­chen Ent­wick­lung.


Glau­ben ist Ersatz­wis­sen

Ein Mann mit einem Schlüssel in der Hand steht in einem dunklen Raum und blickt auf eine halb geöffnete Tür, durch die ein helles Licht scheint.

Glau­ben wir an etwas, tref­fen wir eine Annah­me, ver­mu­ten oder ver­trau­en auf das, was nicht bewie­sen wer­den kann. Oder wir hal­ten eine ver­gan­ge­ne Tat­sa­che heu­te noch für gege­ben, obwohl wir das defi­ni­tiv nicht wis­sen kön­nen. Wir sind von etwas über­zeugt, das sich nicht bewei­sen lässt.

Die­se Über­zeu­gung muss sich nicht auf reli­giö­se oder spi­ri­tu­el­le Inhal­te bezie­hen. Sie kann auch all­täg­li­che Din­ge betref­fen – den Glau­ben an die Treue des Part­ners, an die Sicher­heit des eige­nen Jobs oder dar­an, dass unser Auto in der nächs­ten Stun­de kei­nen Motor­scha­den erlei­det. Doch sicher wis­sen wir nichts davon.

Prak­tisch betrach­tet unter­schei­det sich All­tags­glau­be nicht von reli­giö­sem Glau­ben. In bei­den Fäl­len han­delt es sich um Spe­ku­la­tio­nen, unab­hän­gig vom Grad der Wahr­schein­lich­keit. Der All­tags­glau­be bezieht sich auf welt­li­che The­men (Job, Part­ner­schaft, Auto), der reli­giö­se auf mytho­lo­gi­sche oder über­lie­fer­te Vor­stel­lun­gen. Wäh­rend der All­tags­glau­be oft von Mut­ma­ßun­gen und Wahr­schein­lich­kei­ten geprägt ist, speist sich der reli­giö­se eher aus Hoff­nun­gen, Wün­schen und Ängs­ten.

Sta­bi­li­täts­fak­to­ren und Ori­en­tie­rungs­hil­fen

Unser All­tags­glau­be hilft uns, in unsi­che­ren Situa­tio­nen bes­se­re Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Den reli­giö­sen Glau­ben nut­zen wir, um die Tris­tesse und Trost­lo­sig­keit des All­tags bes­ser zu ertra­gen.

Reli­giö­ser Glau­be ist eine über­lie­fer­te Tra­di­ti­on, die wir in unse­rer Kind­heit – einer Lebens­pha­se, in der wir beson­ders leicht beein­fluss­bar sind – unre­flek­tiert über­neh­men. Wel­chen Glau­ben man uns auch lehrt (christ­lich, jüdisch, mus­li­misch, hin­du­is­tisch, bud­dhis­tisch) – wir neh­men ihn an, weil wir als abhän­gi­ge, unmün­di­ge Kin­der kei­ne Alter­na­ti­ve haben.

Doch da unser Leben oft von Anstren­gung, Leid, Arbeit und Ent­beh­rung geprägt ist, erscheint uns die Idee einer höhe­ren Sinn­ge­bung mit der Zeit immer attrak­ti­ver – selbst wenn wir sie nicht wirk­lich ernst neh­men. In die­ser Funk­ti­on dient reli­giö­ser Glau­be als Sta­bi­li­sa­tor und ist nach wie vor not­wen­dig, um unse­re von Wider­sprü­chen durch­zo­ge­ne Gesell­schaft vor dem Zer­fall zu bewah­ren.


Gren­zen des Wis­sens

Wenn wir über bestimm­te exis­ten­zi­el­le Aspek­te des Lebens nichts wis­sen – weil es unmög­lich ist, dar­über etwas wis­sen zu kön­nen –, emp­fin­den vie­le von uns Unzu­frie­den­heit oder eine unter­schwel­li­ge Unru­he, manch­mal sogar Angst.

Wir sto­ßen an die Gren­zen unse­res Intel­lekts oder Geis­tes und wer­den mit der Tat­sa­che kon­fron­tiert, dass es Din­ge gibt, die sich unse­rer Wahr­neh­mung und unse­rem Urteils­ver­mö­gen ent­zie­hen. Das frus­triert uns – bewusst oder unbe­wusst –, denn das Unbe­kann­te kön­nen wir weder beein­flus­sen noch kon­trol­lie­ren. Die­ser Kon­troll­ver­lust kann unser Selbst­wert­ge­fühl erschüt­tern, weil er bedeu­tet, dass wir nicht in allen Belan­gen des Lebens sou­ve­rän sind.

Wer sich mit die­ser Ein­schrän­kung nicht abfin­den kann oder will, neigt dazu, die­se Wis­sens­lü­cke mit Ersatz­wis­sen zu fül­len.

Glau­bens­sys­te­me, Uto­pien und Eso­te­rik

Dabei kommt es nicht dar­auf an, ob die­ses Ersatz­wis­sen einem wirk­li­chen Wis­sen eben­bür­tig ist. Es soll uns ledig­lich ver­ges­sen las­sen (oder dar­über hin­weg­täu­schen), dass es in der Welt Din­ge gibt, die sich unse­rer Wahr­neh­mung und Ein­fluss­nah­me ent­zie­hen.

Glau­bens­sys­te­me müs­sen dabei nicht zwangs­läu­fig reli­giö­se oder spi­ri­tu­el­le Hin­ter­grün­de haben. Poli­ti­sche Ideo­lo­gien und Uto­pien kön­nen eben­so eine Ersatz­funk­ti­on erfül­len. Wer nicht an das Jen­seits, an Gott oder Engel glaubt, setzt sei­nen Glau­ben viel­leicht in die Wis­sen­schaft, den Kom­mu­nis­mus, den Natio­na­lis­mus oder eine Ver­schwö­rungs­theo­rie – irgend­et­was zum Glau­ben fin­det sich immer.

Man­che unse­rer Uto­pien oder Fan­ta­sien spie­len in der Zukunft oder alter­na­ti­ven Wel­ten, denn oft dient unser Glau­be dazu, uns von der Gegen­wart – also von der Rea­li­tät – abzu­len­ken.

Glau­ben: eine höhe­re Art des Wis­sens

Da es sich in all die­sen Fäl­len um kein wirk­li­ches Wis­sen han­delt – denn Wis­sen basiert stets auf beob­acht­ba­ren, also direkt wahr­nehm­ba­ren Din­gen, Zustän­den oder Zusam­men­hän­gen, die des­halb als Fak­ten gel­ten –, emp­fin­den wir die­sen Man­gel als unan­ge­nehm. Um ihn zu kaschie­ren, eti­ket­tie­ren wir unse­ren reli­giö­sen Glau­ben als meta­phy­si­sches oder gefühl­tes Wis­sen und unse­ren athe­is­ti­schen als Ratio­nal­wis­sen oder schlicht als Wis­sen­schaft.

Wir behan­deln unse­ren Glau­ben als eine höhe­re Form des Wis­sens, als eine aprio­ri­sche Wahr­heit, die kei­nen Beweis oder kei­ne Über­prü­fung benö­tigt. Das macht ihn immun gegen Kri­tik. So fällt es uns leicht, an das zu glau­ben, was uns hilft, unse­re inne­re Unru­he und unse­ren laten­ten Unmut zu besänf­ti­gen.

Wir müs­sen nur fest an etwas glau­ben und davon über­zeugt sein – und schon schei­nen Unru­he und Unmut ver­schwun­den. Doch in Wahr­heit haben wir sie nur betäubt.


Gren­zen des Glau­bens

Auf einem heruntergekommenen Friedhof neben einer Ruine stehen 2 Männer und studieren die Inschriften auf den Grabsteinen.

Oft sind wir über­zeugt, die Wahr­heit zu ken­nen und im Recht zu sein – und lie­gen trotz­dem völ­lig dane­ben.

Man­che Din­ge kön­nen wir wis­sen – und wis­sen sie daher auch. Ande­re hin­ge­gen ent­zie­hen sich unse­rem Wis­sen. Sind sie uns den­noch wich­tig, müs­sen wir sie glau­ben. Dann gibt es drei Mög­lich­kei­ten: Unser Glau­be ent­spricht der Rea­li­tät, er tut es nicht, oder er trifft nur teil­wei­se zu. Wahr­schein­lich ver­brin­gen wir den Groß­teil unse­res Lebens im drit­ten Zustand – im fes­ten Glau­ben, im ers­ten zu sein.

Wir haben unser Auto an einer bestimm­ten Stel­le geparkt. Wir wis­sen, dass wir es ges­tern dort abge­stellt haben. Also sind wir über­zeugt, dass es noch immer dort steht. War­um soll­ten wir etwas ande­res anneh­men?

Doch die­ses Wis­sen ist kein wirk­li­ches Wis­sen. Denn unser Auto könn­te inzwi­schen gestoh­len oder abge­schleppt wor­den sein. Das ist zwar höchst unwahr­schein­lich, und mit gro­ßer Sicher­heit wer­den wir es am nächs­ten Tag dort wie­der­fin­den, wo wir es am Abend zurück­ge­las­sen haben. WIS­SEN wer­den wir es jedoch erst, wenn wir tat­säch­lich davor­ste­hen.

Es ist schon vor­ge­kom­men und pas­siert immer wie­der: Dort, wo ein Auto am Abend stand, steht es am nächs­ten Mor­gen nicht mehr, eben weil es gestoh­len oder abge­schleppt wur­de. Wir glaub­ten also nur zu wis­sen, wo unser Auto steht.

Die Vor­stel­lungs­welt auf­bre­chen

Es bedeu­tet also nicht viel, von etwas über­zeugt zu sein. Was uns als Wis­sen erscheint, ist oft nur eine Annah­me, die auf unzu­rei­chen­den Infor­ma­tio­nen beruht.

Da uns die­se Ein­schrän­kung meist nicht bewusst ist, haben wir kei­nen Grund, an unse­rem ver­meint­lich siche­ren Wis­sen zu zwei­feln. Solan­ge wir nichts vom Dieb­stahl unse­res Autos wis­sen, erscheint uns unse­re Über­zeu­gung als Wis­sen – obwohl sie es längst nicht mehr ist. Unser Wis­sen ist oft nur eine Illu­si­on.

Das heißt natür­lich nicht, dass wir auf­hö­ren soll­ten, uns auf unse­re Gefüh­le und Ver­mu­tun­gen zu ver­las­sen – das wäre töricht. Doch wir soll­ten uns nicht von unse­ren Über­zeu­gun­gen abhän­gig machen, denn das wäre noch viel törichter.Im All­tag spielt das oft kei­ne gro­ße Rol­le, denn Irr­tü­mer gehö­ren zum Leben dazu. Sie kön­nen uns sogar berei­chern, indem sie neue Per­spek­ti­ven eröff­nen und uner­war­te­te Impul­se set­zen.

Bei fun­da­men­ta­len und welt­be­we­gen­den Fra­gen ist jedoch Vor­sicht gebo­ten. Hier ist es klü­ger, unse­re Über­zeu­gun­gen mit Distanz zu betrach­ten. Die­se Hal­tung bewahrt unse­re Offen­heit, hält unse­ren Geist beweg­lich und ver­hin­dert eine Ver­här­tung oder gar Fana­ti­sie­rung unse­rer Denk­wei­se.

Doch all­zu oft sind wir in einer vor­de­fi­nier­ten Vor­stel­lungs­welt gefan­gen. Die­se müs­sen wir durch­bre­chen, wenn wir krea­ti­ve, eman­zi­pier­te und ver­ant­wor­tungs­be­wuss­te Men­schen sein wol­len.

Der Fluch des Wis­sens

Eine Frau steht in einem Keller-Raum. In einer Tür sieht man den Kopf eines nicht zu definierenden Monsters. Mit glühenden Augen sieht es die Frau an. Um ihre herum zappeln auf dem Boden schlangenähnliche Kreaturen.

Nur zu glau­ben, weil wir uns nicht zu wis­sen trau­en, ist töricht. Denn das, was wir aus Angst vor dem Wis­sen nicht wis­sen, exis­tiert ja trotz­dem.

Bewuss­te und unbe­wuss­te Ängs­te trei­ben uns dazu, an Reli­gio­nen, Ideo­lo­gien oder Eso­te­rik zu glau­ben. Ein schöp­fer­gott­gläu­bi­ger Mensch etwa führt die Exis­tenz des Uni­ver­sums und des Lebens auf das Wir­ken eines über­na­tür­li­chen Wesens zurück. Doch damit ent­mys­ti­fi­ziert er das Phä­no­men der Exis­tenz – er ratio­na­li­siert es für sich. In Wahr­heit fürch­tet er sich vor dem, was tat­säch­lich dahin­ter­ste­cken könn­te.

Doch auch Athe­is­ten ver­fah­ren ähn­lich. Sie suchen in der Wis­sen­schaft nach einer beru­hi­gen­den Erklä­rung für das Rät­sel der Exis­tenz. Ihre Welt- und Exis­tenz­er­klä­rungs­mo­del­le ver­mit­teln ihnen ein Gefühl von Kon­trol­le und Sicher­heit, sodass sie sich unge­stört ihrem All­tag wid­men kön­nen.

Unse­re Sinn­su­che – sei es im Über­sinn­li­chen oder in der Wis­sen­schaft – zeigt letzt­lich, dass uns das Phä­no­men der Exis­tenz selbst kaum inter­es­siert. Wir haben die eigent­li­che Aus­gangs­fra­ge gar nicht ver­stan­den: War­um gibt es über­haupt etwas? War­um gibt es nicht nichts?

Ant­wor­ten wie „Gott“ oder „Wis­sen­schaft“ grei­fen zu kurz. Sie befrie­di­gen uns nur, weil man uns bei­gebracht hat, uns mit ihnen zufrie­den­zu­ge­ben. Solan­ge wir mit den Vor­stel­lun­gen „Gott hat alles erschaf­fen“ oder „Das Uni­ver­sum ist aus dem Nichts ent­stan­den“ (der Aus­dif­fe­ren­zie­rung der mathe­ma­ti­schen Null) zufrie­den sind, begnü­gen wir uns mit der zwei­ten Wahl.

Pla­ce­bo­wis­sen

Ange­nom­men, ein gött­li­cher Schöp­fungs­akt hät­te das Uni­ver­sum her­vor­ge­bracht – das Phä­no­men der Exis­tenz Got­tes wäre damit nicht geklärt. Und selbst wenn allein die Natur­ge­set­ze ver­ant­wort­lich wären, wüss­ten wir immer noch nicht, was die­se Geset­ze eigent­lich bedeu­ten. Unse­re Welt­erklä­rungs­sys­te­me sind letzt­lich nur Pla­ce­bo­wis­sen.

Wer ein rei­ches und erfüll­tes Leben füh­ren will, muss selbst etwas dafür tun – eige­ne Inter­es­sen ent­wi­ckeln, krea­tiv tätig sein. Doch das fällt vie­len schwer. Krea­ti­vi­tät und Fan­ta­sie sind Her­aus­for­de­run­gen, denen wir meist nicht gewach­sen sind. Also blei­ben wir beim Alt­ver­trau­ten, bei dem, was man uns über­lie­fert hat – sei es eine Reli­gi­on oder die Ableh­nung der­sel­ben.

Über­lie­fer­te Glau­bens­sät­ze unre­flek­tiert zu über­neh­men, ist bequem. Sie haben sich über Jahr­hun­der­te oder gar Jahr­tau­sen­de erhal­ten – also muss doch etwas Wah­res dar­an sein, den­ken wir. Und tat­säch­lich hel­fen sie uns, die unan­ge­neh­men Aspek­te des Lebens aus­zu­blen­den – eine Eigen­schaft, die wir nur zu gern schät­zen.

Doch tief in uns sitzt ein unbe­wuss­tes Miss­trau­en gegen­über dem Wis­sen – über uns selbst, über die Welt und über das Leben als sol­ches.


Glau­bens­en­er­gie

Es gibt eine krea­ti­ve Art des Glau­bens, die kei­ne Flucht vor dem Wis­sen ist: Opti­mis­mus.

Müs­sen wir unter Zeit­druck drin­gend irgend­wo hin, ohne den kür­zes­ten Weg zu ken­nen, aber zumin­dest die gro­be Rich­tung, wäre es unsin­nig zu resi­gnie­ren und zu sagen: „Solan­ge ich nicht weiß, wel­ches der schnells­te Weg ist, mache ich mich gar nicht erst auf den Weg.“

Das wäre dumm – denn so näh­men wir uns die Chan­ce, unser Ziel doch noch recht­zei­tig zu errei­chen. Statt­des­sen ist es sinn­vol­ler, prag­ma­tisch vor­zu­ge­hen:

Wir wäh­len eine Stre­cke, von der wir glau­ben, dass sie die schnells­te ist. Wäh­rend wir unter­wegs sind, hal­ten wir an die­sem Glau­ben fest – er moti­viert uns, zügig vor­an­zu­kom­men. Viel­leicht haben wir nicht den opti­ma­len Weg gewählt, doch allein die Über­zeu­gung, auf dem bes­ten zu sein, kann uns beflü­geln. Und so errei­chen wir unser Ziel mög­li­cher­wei­se doch noch recht­zei­tig.

Ohne die­sen Glau­ben hät­ten wir uns viel­leicht nicht genü­gend beeilt. Eine opti­mis­ti­sche Ein­stel­lung – auch wenn sie manch­mal den Cha­rak­ter eines blin­den Glau­bens hat – kann in bestimm­ten Situa­tio­nen also tat­säch­lich von Vor­teil sein.

Ähn­lich ver­hält es sich in vie­len ande­ren Lebens­be­rei­chen: Der fes­te Glau­be an das Gelin­gen eines Vor­ha­bens kann einen posi­ti­ven Ein­fluss auf das Ergeb­nis haben. Ent­schei­dend ist jedoch, dass unser Glau­be kein Wunsch­den­ken unter­stützt. Wer über­zeugt ist, eines Tages reich und berühmt zu sein, wird höchst­wahr­schein­lich ent­täuscht wer­den. Wer hin­ge­gen dar­an glaubt, dass sein Enga­ge­ment im Beruf oder All­tag das eige­ne Leben berei­chern kann, wird damit ver­mut­lich recht haben.

Posi­ti­ves Den­ken ist eine wert­vol­le Moti­va­ti­ons­tech­nik – doch es hat Gren­zen. Wir dür­fen nicht dem Irr­tum ver­fal­len, dass alles mög­lich wird, nur weil wir es uns inten­siv genug wün­schen. „Wenn ich es nur wirk­lich will, dann wird es gesche­hen“ – die­se Idee mag ver­füh­re­risch sein, doch in den meis­ten Fäl­len ist Erfolg kein Pro­dukt von Affir­ma­tio­nen, son­dern von Zufall, Talent oder har­ter Arbeit.

Unse­re Glau­bens­en­er­gie soll­ten wir also krea­tiv und bewusst ein­set­zen – als Werk­zeug, nicht als Illu­si­on.


2 Gedanken zu „Glau­bens­sa­chen“

  1. Hal­lo Micha­el,

    coo­le Sei­te von dir. Was mich bzgl. dem The­ma Glau­ben zur Zeit inter­es­siert ist eine Ant­wort auf die Fra­ge: Kann man aus dem Nicht­glau­ben an eine Leh­re eine Schluss­fol­ge­rung zie­hen? Wür­de ger­ne dei­ne Mei­nung bzw. Her­lei­tung zu dem The­ma wis­sen. Dan­ke

    Antworten
    • Hal­lo Muc
      Dan­ke für dei­ne inter­es­san­te Fra­ge, die mich zu fol­gen­den Gedan­ken ani­miert hat.

      Fra­ge: Kann man aus dem Nicht­glau­ben an eine Leh­re eine Schluss­fol­ge­rung zie­hen?

      Zunächst:
      Leh­ren ver­mit­teln Wis­sen, Erfah­run­gen, Erkennt­nis­se, Phi­lo­so­phien und Ideen. Die­se kön­nen ganz oder teil­wei­se rich­tig oder falsch sein. Eine Leh­re, die zumin­dest in ihrem Kern rich­tig ist, wird auch unser Den­ken und Leben bes­ser, zukunfts­taug­li­cher und krea­ti­ver machen. Eine Leh­re, die in ihrem Kern nicht rich­tig ist, besitzt die­se Eigen­schaft nicht – höchs­tens zufäl­lig oder über Umwe­ge: Manch­mal ver­fol­gen wir ohne es zu wis­sen eine fal­sche Idee, die dann doch zum rich­ti­gen Ziel führt. Eine For­mel oder Hand­lungs­wei­se kann zwar falsch sein, doch indem wir sie bis zu Ende den­ken, erken­nen wir neue und wei­ter­füh­ren­de Aspek­te unse­rer ursprüng­li­chen Fra­ge­stel­lung.

      Meis­tens ver­las­sen wir den Pfad unse­rer fal­schen Ideen jedoch nicht und hal­ten ein Leben lang an ihnen fest. Des­we­gen ist es sinn­voll zwi­schen ratio­na­len und irra­tio­na­len Leh­ren zu unter­schei­den. Bei­de haben ihre Berech­ti­gung. Die irra­tio­na­len kön­nen jedoch destruk­ti­ve Aus­wir­kun­gen haben (im Sinn einer Irr­leh­re) und soll­ten des­halb geson­dert behan­delt und kri­tisch betrach­tet wer­den.

      Die Ant­wort auf die Fra­ge nach der Schluss­fol­ge­rung muss des­halb in zwei Tei­le auf­ge­split­tet wer­den:
      Der „Nicht­glau­ben“ an ratio­na­le Leh­ren (bei­spiels­wei­se Natur­wis­sen­schaf­ten) könn­te als Ver­wei­ge­rung moder­nen Wis­sens bezeich­net wer­den, der Nicht­glau­ben an irra­tio­na­le Leh­ren (bei­spiels­wei­se Reli­gi­on) als die Los­lö­sung von den über­lie­fer­ten Asso­zia­tio­nen unse­rer archai­schen Vor­fah­ren und als Vor­aus­set­zung für einen offe­nen Blick für die Anfor­de­run­gen einer moder­nen, zukünf­ti­gen Welt.

      Das ist jeden­falls das, was mir auf die Schnel­le zu die­sem The­ma ein­fällt.

      Antworten

Schreibe einen Kommentar