Die Welt ist bürgerlich
Die meisten aller Menschen sind bürgerlich. Das heißt, sie denken konventionell und pflegen die traditionellen Werte, mit denen sie aufgewachsen sind. Diese Bürgerlichkeit ist Basis und Stürze unserer Gesellschaft.
Unserer Volkstümlichkeit hilft, die alten Traditionen und Überlieferung nicht zu vergessen. Neues lehnen wir als bürgerliche Menschen in der Regel ab und entwickeln manchmal auch aggressive Energien, um das Eindringen fremder Lebensstile oder Sichtweisen in unsere Erlebniswelt zu verhindern.
Als bürgerliche Menschen streben wir nicht mehr an als das, was von uns erwartet wird oder wir in unserer Jugend gelernt haben. Einen eigene, individuelle Art des Denkens und der Wahrnehmung kennen wir nur selten.
Wir haben nicht das Bestreben, uns weiterzuentwickeln oder zu verändern, um über das uns Vertraute hinauszugehen, denn uns wurde beigebracht, dass das nicht nötig ist oder sogar gefährlich sein könnte. An die vorherrschenden Strukturen sind wir gut angepasst. Das, was als allgemeine Meinung gilt, ist meistens auch unsere.
Opportunismus und Mitläufer
Im negativen Sinn sind wir als bürgerliche Menschen die klassischen Opportunisten und Duckmäuser. Wir machen alles mit, was die Mehrheit macht und besitzen nur eine geringe geistige Beweglichkeit. Unsere Vorstellungskraft und Fantasie beschränkt sich hauptsächlich auf das, was uns vorgegeben wurde. Bürgerliche Menschen sind daher das konservative Rückgrat einer stabilen Gesellschaft.
Da die Bevölkerungen der Nationen überwiegend aus bürgerlichen Menschen bestehen, bestimmen diese auch das allgemeine kulturelle Klima in einer Gesellschaft. Nur minimale Veränderungen werden akzeptiert.
Die Entwicklung einer Gesellschaft schreitet deshalb in dem Tempo weiter, das die bürgerliche Welt akzeptiert – also sehr langsam! Erst die nächste oder übernächste Generation integriert mögliche Veränderungen und Neuerungen schrittweise in das soziale Verhaltens- oder Wahrnehmungsmuster.
Dynamik der bürgerlichen Anpassung
Als Beispiel mag die Musik und Kleidung der 60er und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts gelten: Rockmusik war damals neu und galt für die konservative bürgerliche Generation als sprichwörtliches »Teufelswerk« oder schlichtweg als Krach.
Für die heutige bürgerliche Generation ist dieser „Krach“ aber ganz normale Musik. Selbst konservative Politiker können Hardrockfans sein, ohne Schaden für ihre Reputation fürchten zu müssen. Das Teufelswerk von damals ist inzwischen Standard und erschreckt niemanden mehr.
In den 1960er-Jahren hätte die bürgerliche Welt Männer mit langen oder längeren Haaren am liebsten in ein Arbeitslager gesteckt oder manchmal auch gleich an die Wand gestellt. Heute haben selbst hoch angesehene Männer wie Professoren oder Staatsanwälte schulterlange Haare.
Das, was einmal spöttisch als Hippielook geächtet war (beispielsweise T‑Shirts oder Hemden, die nicht in die Hosen gesteckt wurden und Ähnliches mehr), gehört heute zum Standardoutfit der jungen, bürgerlichen Generation. Der Schlabber-Look der Freaks und Hippies ist heute Mode.
Kaputte, löchrige Jeans fanden damals noch nicht einmal als Altkleidung Akzeptanz und wurden nur von Hippies oder Freaks getragen. Heute werden Jeans bereits mit Löchern und Verschleißerscheinungen hergestellt.
Die Anpassung und Gewöhnung an das Neue
Angehörige der „Erfindergeneration“ dieses Stils (also die ehemaligen Hippies, Freaks und Gammler), die heute immer noch solche Klamotten tragen, werden von jungen Leuten manchmal schief angesehen, so als würde sie sich etwas aneignen wollen, das ihnen gar nicht zusteht. Das zeigt, wie kurzlebig das moralische Gedächtnis in der bürgerlichen Welt ist:
Zuerst wird etwas abgelehnt doch nach einer Gewöhnungsphase klammheimlich in Besitz genommen. Nach der Einverleibung glauben alle – besonders die nachfolgenden Generationen – dass es schon immer so war.
Diese Beispiele zeigen, wie die Weiterentwicklung in unserer bürgerlichen Gesellschaft funktioniert: Sie ist kein bewusstes, absichtliches Voranschreiten, keine angestrebte Veränderung, sondern das Ergebnis einer Gewöhnung und einer unbewussten Aneignung fremder Werte.
Auf diese Art entwickeln die Gesellschaften sich über die Jahrhunderte hinweg weiter, kaum wahrnehmbar und nur in der langen Rückschau erkennbar. Und deshalb ist sie so erfolgreich, da sie nicht überhastet stattfindet und sich »natürlich« etablieren kann.
Intellektualität und Progressivität
Der Gegenpol zum bürgerlichen Menschen ist der intellektuelle oder progressiv denkende Mensch. Er ist deutlich in der Minderheit und befasst sich gern mit allem Möglichen: Er experimentiert, probiert neue Wege aus, philosophiert, hat eine ausgeprägte Fantasie, ist manchmal sprunghaft und grenzüberschreitend. Im Gegensatz zum bürgerlichen Menschen geht er Wagnisse ein. Manchmal will er die Gesellschaft verändern, denn er weiß, vieles in ihr ist verbesserungsbedürftig.
Allerdings kann es ihm am nötigen Einfühlungsvermögen fehlen. Er sieht nicht immer, was machbar ist und mutet der Gesellschaft Veränderungen zu, zu der diese nicht (oder noch nicht) bereit ist.
Er versteht oft nicht oder will nicht einsehen, dass ein Wechsel der Gewohnheiten in einer Gemeinschaft nur realisierbar ist, wenn er von möglichst viele Menschen gemeinsam gewünscht wird. Ohne es zu merken, bevormundet er deshalb die Gesellschaft. Deswegen kommt es oft zu Missverständnissen.
Konservativität kontra Progressivität
Als bürgerliche, konservative Menschen fehlt uns oft das Verständnis für notwendige Veränderungen. Uns genügt das Leben, welches uns in die Wiege gelegt wurde. Veränderungen empfinden wir als Störung unserer Alltagsroutinen – als Unordnung. Und ohne Ordnung finden wir uns im Leben als bürgerliche Menschen nur schlecht zurecht.
Dem progressiven Menschen hingegen kann es nicht schnell genug gehen. Aufgrund dieser Diskrepanz entstehen dann Konflikte.
Die Wechselwirkung der Pole »Stabilität durch Tradition« und »Veränderung durch Weiterentwicklung« bestimmen den Charakter und die Dynamik einer gesellschaftlichen Entwicklung. Sie wirken aufeinander ein: Die bürgerliche, konservative Fraktion bremst den oft überhasteten Entwicklungsdrang der progressiven, intellektuellen Fraktion auf ein moderates Tempo ab. Die progressive Fraktion weicht die Lethargie der bürgerlichen langsam auf, sodass diese sich schließlich doch etwas bewegt.
Der progressive Entwicklungsdrang wirkt allerdings nur deshalb überhastet, weil uns als bürgerliche Menschen das Bewusstsein für die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen fehlt. Die bürgerliche Fraktion ist der Hemmschuh jeder Entwicklung. Mit diesem Handicap muss die Menschheit leben. Schätzungsweise gehören ihr 80 Prozent aller Menschen an und diese Tatsache darf nicht ignoriert werden.
Die Bürgerlichkeit überwinden
Wollen wir uns als Menschheit weiterentwickeln, zukunftstauglich werden, müssen wir also unsere Bürgerlichkeit überwinden. Denn mit der traditionsorientierten konservativen Denkweise wird sich keine Zukunft gestalten lassen, denn die Anforderungen der kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte sind traditionsfeindlich. Wir müssen neue Wege finden, unsere Gewohnheiten ablegen und unsere Wahrnehmung ändern. Wir müssen uns als Individuen globalisieren und emanzipieren.
Das Hauptaugenmerk der meisten Menschen ist bis heute: So wie es ist, so soll es bleiben. Doch für die Zukunft sollte es stattdessen lauten: So wie es bisher ist, darf es nicht mehr sein.
Doch diese Einsicht ist den allermeisten bürgerlichen Menschen heute noch nicht möglich. Denn Veränderung bedeutet auch Unsicherheit und Ungewissheit. Als bürgerliche Menschen sind uns unsere Gewohnheiten und die daraus resultierende Vorhersehbarkeit sehr wichtig.
Deshalb ist es schwer vorherzusagen, wie eine solche Wende im Denken der Menschen aussehen könnte. Wahrscheinlich wird es ein langer Prozess sein, wie er in der Geschichte schon oft stattgefunden hat. Verkürzt und stark vereinfacht ausgedrückt ist die Lösung aber simpel: Wir müssen uns als Individuen emanzipieren, (also unseren Herdentrieb ablegen) und mehr und mehr unser eigenes Verhalten kritisch betrachten.
Ängste, Vorurteile, Konventionen
Noch wird unser Denken und Tun stark von unseren Ängsten und Vorurteilen dominiert. Diese Ängste und Vorurteile sitzen tief und hindern uns daran, unsere Konventionen und Traditionen kritisch zu betrachten.
Das Überwinden dieser Handicaps ist demnach eine wichtige Voraussetzung für unsere Transformation vom bürgerlichen zum emanzipierten Menschen. Dieser Prozess kann noch sehr lange dauern, denn normalerweise machen wir nichts freiwillig. Erst wenn das Leben uns stößt, bewegen wir uns und lassen Veränderung zu. Und Emanzipation kann nur selbstbestimmt geschehen – andernfalls ist sie keine.
Für die Zukunft braucht die Menschheit einen offenen, emanzipierten und beweglichen Verstand und Geist. Die Menschen der Zukunft müssen aufgeklärt und vorurteilsfrei sein. Entscheidungen, die in der Zukunft globale Auswirkungen besitzen, dürfen nicht von einem angst- und vorurteilsbehafteten Gemüt gefällt werden. Die bürgerliche Mentalität muss also aussterben, damit die Menschheit eine brauchbare Zukunft hat.