Notwendige Interpretation von komplexen Texten
Wir sollten nur dann Texte als interpretationsbedürftig verstehen, wenn sie so, wie sie geschrieben stehen, nicht verstanden werden können. Leider tun wir das bei der Bibel nur selten: Wie erklären diese Texte als interpretationsbedürftig, wenn wir sie so, wie sie geschrieben stehen, nicht verstanden haben wollen!
Inhalt
Wir interpretieren Texte, wenn diese ohne Weiteres nicht zu verstehen sind. Kann ein Text ohne Interpretation nicht verstanden werden, liegt das stets am Text selbst. Dann ist er entweder umständlich geschrieben oder besitzt einen akademischen, wissenschaftlichen oder philosophischen Charakter.
Bei philosophischen Schriften ist das oft der Fall. Ein gutes Beispiel sind die Bücher von Kant: Ohne Interpretation und Analyse sind diese nur schwer zu verstehen. Und ob die Interpretation dann auch richtig ist, ist noch eine andere Frage. Mehrere Interpretationen desselben Textes können unterschiedliche Ergebnisse liefern.
Selbst profane Texte müssen manchmal interpretiert werden, denn wir formulieren unsere Gedanken nicht immer klar und verständlich. Ob und in welchem Umfang unsere Niederschriften interpretationsbedürftig sind, hängt daher vom Grad ihrer allgemeinen Komplexität ab.
Bildnisse und Gleichnisse in der Bibel
Die Bibelstellen, die uns gefallen, lassen wir unangetastet. Doch die Stellen, die uns nicht gefallen, „interpretieren“ wir.
Natürlich werden in der Bibel oft Bildnisse benutzt. Wenn beispielsweise in Jesaja 11; 1 von einem Reis gesprochen wird, der aus einem Stumpf hervorgeht, weiß jeder, dass kein wirklicher Reis gemeint ist, der aus einem Arm- oder Baumstumpf herauswächst, sondern eine neue Generation von Menschen entsteht.
Allgemein gibt es nur wenige rätselhafte Bibelstellen, bei denen wir uns ernsthaft fragen müssen, wie sie gemeint sein könnten, weil sie nicht zu verstehen sind. Abgesehen von der oft schwermütigen, umständlichen und altertümlichen Ausdrucksweise, den unnötigen Aufzählungen von Geburtslinien sowie den überladenen Bildnissen, ist die Bibel in Alltagssprache verfasst. Sie besitzt keine Komplexität, die es schwer macht, sie beim Lesen zu verstehen, und nötigt uns auch nur selten, Sätze mehrmals lesen zu müssen.
Kein philosophischer Kontext
Die Bibelautoren waren keine Philosophen oder Wissenschaftler. Ihre Schriften besitzen keinen akademischen oder intellektuellen Charakter. Eine Vorbildung als Voraussetzung zum Verständnis dieser Erzählungen ist deshalb nicht erforderlich. Jeder, der halbwegs gut lesen kann, versteht die Bibel auch.
Wenn wir trotzdem der Meinung sind, Textstellen wie »… tötet alle, Brüder, Freunde und Verwandte …“ (Zürcher Bibel, Exodus 32; 27) müssen interpretiert werden, um richtig verstanden werden zu können, sollten wir uns eingestehen, Schönfärberei zu betreibt.
Vor noch 1000 Jahren wäre kaum ein Kleriker auf den Gedanken gekommen, solche Bibelstellen müssten „interpretieren“, also ins richtige Licht gesetzt werden. Man wusste, mit Gott war nicht zu spaßen und wer gegen seine Regeln verstieß, hatte selbstverständlich eine harte Strafe verdient (in der Regel war das der Tod).
Keine Verklausulierung, keine seelische Pein
Die Autoren der Bibeltexte konnten nur das gemeint haben, was sie wörtlich niedergeschrieben haben. Zu ihren Lebzeiten war es nicht üblich, Botschaften chiffriert zu formulieren, damit nur Eingeweihte sie verstehen und wir heute gezwungen sind, diese Texte entschlüsseln zu müssen.
Als die Bibelautoren darüber berichteten und davor warnten, dass von Gott Vernichtung oder auch ewige Höllenqualen zu erwarten sind, wenn man seine Gebote missachtet, hatten sie es nicht im symbolischen Sinn gemeint.
Sie sprachen von keiner seelischen Pein – im Sinn der modernen Psychologie. Wenn wir ihnen also zwei oder drei Jahrtausende später unterstellen, sie hätten es anders gemeint als so, wie sie es aufgeschrieben haben, reden wir uns eine hässliche Sache einfach schön.
Unvollkommene Schriften eines vollkommenen Gottes
Bei der Bibel handelt es sich im Sinn des christlichen Glaubens um die geoffenbarte Wahrheit Gottes. Der Überlieferung nach stammen diese Texte also vom Erschaffer des Universums selbst und wurden in seinem Auftrag von Menschen lediglich niedergeschrieben – also nicht verfasst. Seinem Anspruch entsprechend handelt es sich bei der Bibel also um die Gedanken Gottes.
Als unvollkommene Wesen können unsere Niederschriften naturgemäß nur unvollkommen sein. Hundertprozentige Vollkommenheit kann es für einen Menschen niemals geben. Wir können uns dieser zwar annähern, doch wirklich erreichen werden wir sie nie.
Bei Gott sollte es jedoch umgekehrt sein: Seine Schriften und Worte können gar nicht unter 100 Prozent fallen. Sind wir als Bibelgläubige also der Meinung, seine Worte interpretieren zu müssen, erkennen wir seine Vollkommenheit nicht an.
Bibelauslegung ist Umdeutung
Interpretieren wir Gottes Schriften, unterstellen wir unserem Schöpfer zumindest formell eine unklare Ausdrucksweise. In Wirklichkeit gefallen uns diese Stellen einfach nicht – das ist der wahre Grund für unsere „Deutung“.
Darum verändern wir die Bedeutung seiner Worte, legen Gott gewissermaßen unsere Worte in den Mund. Oft machen wir aus einer einfachen Botschaft eine komplexe, beispielsweise wenn wir die von Gott zu verantwortenden Grausamkeiten banalisieren, indem wir ihnen einen erzieherischen Wert unterstellen.
Wir nehmen uns das Recht heraus, zu bestimmen, was unser Schöpfer meint, wenn er zu uns spricht. Wenn uns das, was er uns in seinem Buch übermittelt, nicht gefällt, tun wir so, als hätte er etwas anderes damit gemeint, obwohl seine Worte weder missverständlich noch mehrdeutig sind. Im Prinzip verstehen wir ihn also absichtlich falsch.
Doch wir sollten uns fragen: Warum sollte Gott uns seine vollkommene Botschaft auf verschlüsselte Weise mitteilen? Nirgendwo lässt er schreiben, auch nicht sinngemäß: „Findet selbst raus, was ich gemeint habe.“
Tabubruch und Widersprüchlichkeit
Für einen echten Bibelgott-Gläubigen sollte eine Exegese also tabu sein. Denn wenn wir als wahre Christen, Muslime oder Juden Gottes geoffenbarte Wahrheit nicht ernst nehmen, zeigen wir, dass es uns in Wirklichkeit um etwas anderes als den Glauben an einen wahren Gott geht.
Das, was uns an Gottes Schriften gefällt, interpretieren wir nicht, sondern lassen es unangetastet. Nur die kontroversen Bibelstellen halten wir für interpretationsbedürftig.
Das ist sehr verdächtig. Denn es ist unmöglich, dass ausgerechnet nur die hässlichen Stellen durch Zufall unklar verfasst wurden, die schmeichelhaften jedoch nie.
Sicherlich sind Bibel, Thora und Koran zu 100 Prozent dem menschlichen Verstand entsprungen. Sie sind zum Teil Formen der frühen Geschichtsschreibung, was in diesem Zusammenhang jedoch keine Rolle spielt. Immerhin verstehen viele Christen und Juden (besonders die orthodoxen) und fast alle Muslime ihre Heilige Schriften als tatsächlich von Gott verfasst. Das sollte berücksichtigt werden.
Missbrauch der Heiligen Schriften
In jedem Jahrhundert oder in jeder Epoche werden und wurden die Heiligen Schriften mittels Interpretation der vorherrschenden Zeit angepasst, damit sie weiterhin als unantastbare moralische Instanzen fungieren können.
Interpretieren wir Gottes Botschaften, bringen wir damit letztendlich unser Desinteresse daran zum Ausdruck. Sie interessiert uns eigentlich nicht, wir benutzen sie nur! Andernfalls würden wir sie nicht umformen, sondern so akzeptieren und mögen, wie sie ist.
Wir missbrauchen sie für unsere politischen, sozialen und persönlichen Zwecke, um unsere oft fragwürdigen Handlungen legitimieren zu können. In der Bibel steht nirgendwo, dass sie ausgelegt werden soll, sinngemäß sogar das Gegenteil: „Es darf kein Wort hinzugefügt oder entfernt werden“, steht dort. Das tun wir jedoch, wenn wir die Bibel interpretieren.
Anpassung und Modernisierung
Ein weiterer Grund für unsere Interpretationswut: Unsere Heiligen Schriften wurden in archaischen, antiken und mittelalterlichen Zeiten verfasst und reflektieren deshalb auch das Denken und Fühlen dieser Epochen.
Der Gott dieser vergangenen Zeiten hat jedoch einen grausamen, kriegerischen und willkürlichen Charakter: Er verlangt Unterwerfung von seinen Gläubigen und droht der Menschheit mit Vernichtung. Das verträgt sich nicht mit der Vorstellung, die wir uns heute von einem guten, gerechten und barmherzigen Gott machen.
Um also weiterhin mit einem guten Gefühl das tun zu können, was wir „glauben“ nennen, müssen wir die Bibel (und damit Gott) unserer modernen Moral anpassen.
Mit der Kirche ist ähnlich: Sie modernisiert sich in unregelmäßigen Abständen (wenn auch nur minimal und sehr langsam) denn sonst laufen ihr die Mitglieder weg. Aus dem gleichen Grund „modernisieren“ wir unser Verständnis von der Bibel. Nur sprechen wir dann von Interpretation, in Wirklichkeit handelt es sich um eine Anpassung durch mutwillige Umdeutung.
Inkonsequenz und Erkenntnisschutz
Unsere Bibelauslegungen sind nur ein weiterer Beleg für unsere in mehr oder weniger allen Lebensbereichen vorhandene Inkonsequenz. Wir pflegen und verteidigen nicht nur unsere Religionen, die dem beschränkten Geist unserer archaischen Vorfahren entsprungen sind. Auch andere uralte Traditionen und Bräuche halten wir am Leben, obwohl sie schon längst ihren Sinn verloren haben.
Mit unseren Bibelinterpretationen schützen wir uns instinktiv vor der Erkenntnis, aus Tradition an Dinge zu glauben, die wir sonst niemals ernst nehmen könnten.
Ich verzweifle fast an den Religionen manchmal mehr, manchmal weniger, heute sehr.
Aus Mitleid, weil ich keinen Fernseher angeschlossen habe, schickte mir gestern ein Journalist seinen ziemlich begeisterten Bericht über den gerade zu Ende gegangenen ökumenischen Gottesdienst in Wittenberg.
Die leitenden Geistlichen Marx und Bedform ‑Strom waren in letzter Zeit von nicht nachdenklichen Leuten kritisiert worden, weil sie kürzlich ihre um die Hälse gehängten Kreuze vor der berühmtesten muslimischen Gebetsstätte in Jerusalem abgelegt hatten.
Also demonstrierten beide Bischöfe gestern doppelt gründlich mit ihrem Kreuz, obwohl es in unserer Zeit doch kaum jemanden gibt, der sich nicht fragt:
Was ist das nur für ein blutrünstiger Monstergott, der zum Verzeihen den Foltertod seines selber körperlich gezeugten Sohnes unbedingt braucht, prima findet und diejenigen verdammt, die dies Geschäft als Unwahrheit sehen, keine Kruzifixe in ihren Häusern aufhängen, weil sie dies auch nicht mit dem Polizeifoto tun möchten, das ihr ermordetes blutendes Kind zeigt.
demonstrierten sie gestern doppelt stark mit dem Kreuz.