Reli­gi­on im 21. Jahr­hun­dert


In einem Raum sitzen ein Astronaut im Raumanzug und eine ältere Dame sich gegenüber. Zwischen den beiden steht ein Baum, auf dem Marienkäfer herumkrabbeln. Der Astronaut hält eine Tageszeitung in den Händen.

Fes­seln der Ver­gan­gen­heit

Es ist nicht wich­tig, ob wir glau­ben oder nicht glau­ben. Wir müs­sen auch nicht lie­ben. Wich­tig ist, dass wir fried­lich und freund­lich durchs Leben gehen, denn das ist alles, was die Mensch­heit für eine glück­li­che und erfolg­rei­che Zukunft braucht.

Obwohl wir alle Men­schen des 20. und 21. Jahr­hun­derts sind, ist unser Den­ken und Asso­zi­ie­ren oft noch stark von den geis­ti­gen Errun­gen­schaf­ten längst ver­gan­ge­ner Epo­chen geprägt. Von die­ser glo­bal-kol­lek­ti­ven Kon­di­tio­nie­rung und Fes­sel muss die Mensch­heit sich drin­gend befrei­en, denn die Auf­ga­ben, vor der unse­re Welt im 21. und kom­men­den 22. Jahr­hun­dert steht, ist mit den beschränk­ten Vor­stel­lun­gen unse­rer archai­schen Vor­fah­ren nicht zu meis­tern.

Reli­gio­nen sind und blei­ben die Welt­erklä­rungs­mo­del­le unse­rer bron­ze­zeit­li­chen Vor­fah­ren – dar­auf muss immer wie­der hin­ge­wie­sen wer­den. Und aus die­sem Grund kön­nen sie auch nur das Den­ken und Emp­fin­den der Men­schen, die in der Bron­ze­zeit gelebt haben, wider­spie­geln.

Des­halb soll­te es sich heu­te eigent­lich ver­bie­ten, sich im Leben dar­an zu ori­en­tie­ren, genau­so, wie es sich im Erwach­se­nen­al­ter ver­bie­tet, sich die nai­ven Vor­stel­lun­gen unse­rer Kin­der­heit zum Vor­bild zu neh­men.

Erb­schaft aus der spä­ten Stein­zeit

Das bedeu­tends­te Erbe unse­rer Vor­fah­ren aus vor­zi­vi­li­sa­to­ri­scher Zeit ist wohl der Glau­be an die Exis­tenz eines oder meh­re­rer über­na­tür­li­cher Super­we­sen, die wir Göt­ter nen­nen. Zwar gab es bereits im Mit­tel­al­ter gele­gent­lich Zwei­fel an deren Exis­tenz, dies geschah aller­dings eher sel­ten und galt meis­tens als Nar­re­tei.

Doch schon in Pla­tons Buch „Der Staat“ steht geschrie­ben: „Doch wenn es sie [die Göt­ter] über­haupt nicht gibt … ()“ (DTV-Aus­ga­be 1991 Pla­ton: Der Staat. Zwei­tes Buch, Sei­te 73). Für freie Den­ker war in der Anti­ke reli­gi­ons­kri­ti­sches Den­ken also schon mög­lich.

Heut­zu­ta­ge ris­kiert ein Mensch sein Leben zwar nur noch in Aus­nah­me­fäl­len, wenn er sich als Ungläu­bi­ger zu erken­nen gibt, doch mit Dis­kri­mi­nie­rung muss er trotz­dem rech­nen. Nach wie vor ist es eine Tat­sa­che, dass Into­le­ranz auf der the­is­ti­schen Sei­te weit häu­fi­ger zu fin­den ist, als auf der athe­is­ti­schen.

Das ist auch kein Wun­der, denn der bibli­sche Gott ist selbst sehr into­le­rant. Des­we­gen wer­den im All­ge­mei­nen eher dog­ma­tisch und frei­heits­feind­lich den­ken­de Men­schen von Reli­gio­nen ange­zo­gen, da frei­es Den­ken dem Prin­zip aller Reli­gio­nen wider­spricht.

Es fällt uns nach wie vor schwer, ande­re Men­schen ihr Leben so leben zu las­sen, wie die­se es wol­len. Es gibt bei­spiels­wei­se athe­is­ti­sche Aka­de­mi­ker, die vor­ge­ben, einer Glau­bens­kon­fes­si­on anzu­ge­hö­ren, weil sie befürch­ten, einem Job an einem Insti­tut sonst nicht zu bekom­men. Wirk­lich modern ist das nicht.

Die Ver­mensch­li­chung Got­tes

Aus heu­ti­ger, moder­ner Sicht ist das Schöp­fer­gott­kon­zept infan­til und unreif. Und dass so vie­le Men­schen heu­te noch dar­an fest­hal­ten, zeigt: Wir ver­ste­hen die Exis­tenz nicht als Wun­der, das nicht erklärt wer­den kann (auch nicht durch das Pos­tu­lat eines Schöp­fer­got­tes, der selbst wie­der ein wei­te­res Wun­der dar­stellt). Wol­len wir also heut­zu­ta­ge wei­ter­hin reli­gi­ös sein, soll­ten wir das nicht mehr auf die mit­tel­al­ter­li­che Art tun.

Es soll­te uns inzwi­schen klar sein, dass die reli­giö­sen Vor­stel­lun­gen unse­rer archai­schen Vor­fah­ren nur deren Ängs­te und Wün­sche wider­spie­geln. Denn ein real exis­tie­ren­der Gott wür­de sich nie­mals so (infan­til und unaus­ge­reift) ver­hal­ten, wie es der bibli­sche tut.

Mit ande­ren Wor­ten: Sämt­li­che Attri­bu­te, die einen Men­schen zuge­schrie­ben wer­den kön­nen (bei­spiels­wei­se Hass, Eifer­sucht, Gel­tungs­be­dürf­nis, Gewalt­be­reit­schaft etc.) dür­fen nicht auf Gott ange­wandt wer­den, denn das wäre eine Ver­mensch­li­chung Got­tes, eine Anthro­po­mor­phi­sie­rung der Exis­tenz selbst.

Dies soll­te uns allen klar sein, denn wir leben nicht mehr im Mit­tel­al­ter, son­dern im 21. Jahr­hun­dert, einer rela­tiv moder­nen und auf­ge­klär­ten Zeit.


Reli­gio­nen ent­wi­ckeln sich nicht wei­ter

Auf kei­nem ande­ren Gebiet sind wir so rück­stän­dig wie auf dem der Reli­gi­on. Was unse­re tech­ni­schen Aus­stat­tun­gen angeht, sind wir über­wie­gend auf der Höhe der Zeit. Unse­re Mobil­te­le­fo­ne sind meis­tens die neus­ten Model­le und oft kön­nen wir es kaum abwar­ten, bis ein neu­es auf den Markt kommt. Unse­re Autos sind sel­ten älter als zehn Jah­re und in unse­re Com­pu­ter bau­en wir peri­odisch leis­tungs­fä­hi­ge­re Spei­cher­chips, Lauf­wer­ke oder Gra­fik­kar­ten ein oder kau­fen uns gleich einen neu­en.

In unse­ren Wohn­zim­mern ste­hen moder­ne LCD- oder Plas­ma­fern­se­her, die wir alle fünf bis zehn Jah­re gegen ein bes­se­res Modell aus­tau­schen. Wir kochen unser Essen auf Induk­ti­ons­her­den und unse­re Spül­ma­schi­nen säu­bern das Geschirr im Eco-Modus. Selbst unse­re Mode tra­gen wir kaum län­ger als ein paar Jah­re.

Was die mate­ri­el­len Aspek­te des Lebens angeht, sind wir also sehr modern und zukunfts­ori­en­tiert und ver­pas­sen ungern eine Neue­rung. Doch wenn es um unse­re geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Errun­gen­schaf­ten, spe­zi­ell der Reli­gi­on geht, begnü­gen wir uns mit dem, was bereits seit Jahr­hun­der­ten hoff­nungs­los ver­al­te­ten ist.

Arte­fak­te der Ver­gan­gen­heit

Unse­re eta­blier­ten Reli­gio­nen sind seit Ihrer Ent­ste­hung so gut wie unver­än­dert geblie­ben, sie ent­wi­ckel­ten sich im Gegen­satz zu allem ande­ren nicht wei­ter. Nüch­tern betrach­tet sind sie nur ange­staub­te Arte­fak­te aus einer frem­den Welt, die kei­nen Bezug zur Gegen­wart haben. Wir schlep­pen sie aus Tra­di­ti­on mit uns her­um, ohne uns eigent­lich wirk­lich für sie zu inter­es­sie­ren. Wäre das der Fall, wür­den wir sie infra­ge stel­len und refor­mie­ren.

Die wich­tigs­ten Ele­men­te unse­rer Reli­gio­nen sind Unter­wür­fig­keit und Gehor­sam­keit gegen­über Gott und sei­nen Stell­ver­tre­tern, der Pries­ter­schaft.

Das erken­nen wir auch dar­an, dass die ers­ten bibli­schen Gebo­te kei­nen pazi­fis­ti­schen Cha­rak­ter besit­zen, son­dern ledig­lich Gehor­sam ein­for­dern. Ers­tes Gebot: Ich bin dein Herr, dein Gott. Du sollst nicht ande­re Göt­ter haben neben mir. Zwei­tes Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, dei­nes Got­tes, nicht miss­brau­chen.

Das ist extrem eitel. Eitel­keit passt nicht zu einem ewig exis­tie­ren­den, abso­lut wahr­haf­ti­gen und wei­sen Lebe­we­sen. Eitel­keit ist Aus­druck von Ego­zen­trik und Selbst­ver­liebt­heit und setzt einen Ver­gleich mit etwas ande­rem vor­aus.

Doch womit soll­te ein Wesen, das ohne Anfang und Ende exis­tiert und das ein­zi­ge sei­ner Art ist, sich ver­glei­chen wol­len oder kön­nen? Etwa mit ande­ren Göt­tern, die es laut sei­ner eige­nen Wor­te gar nicht gibt? Dann hät­te Jeho­va ein sehr nied­ri­ges Selbst­be­wusst­sein, da er sich von einer ein­ge­bil­de­ten Kon­kur­renz bedroht fühlt.

Fried­lich­keit ist nicht wirk­lich wich­tig

Erst an fünf­ter Stel­le steht: „Du sollst nicht töten“. (Gemeint ist damit jedoch kein gene­rel­les Tötungs­ver­bot. Denn oft befiehlt Jeho­va sei­nem Volk, ande­re Völ­ker zu töten, oder tut es gleich selbst. Des­we­gen müss­te es eigent­lich hei­ßen: „Du sollst kei­ne Leu­te dei­nes eige­nen Stam­mes töten.) Selbst das Ein­hal­ten der Fei­er­ta­ge (4. Gebot) ist wich­ti­ger als Fried­lich­keit.

Ent­stan­den sind die­se Regeln zu einer Zeit, als der Zusam­men­halt in den Gesell­schaf­ten stark von einer gut funk­tio­nie­ren­den, stren­gen Hier­ar­chie abhän­gig war. Doch in der Welt der Zukunft wird die­ses Prin­zip nicht mehr funk­tio­nie­ren.

Der Mensch der Zukunft wird kein Mensch des Mit­tel­al­ters sein kön­nen. In Zukunft wer­den immer mehr Men­schen ihr Leben nach ihren eige­nen Para­me­tern gestal­ten wol­len und sich die­ses Recht auch vor­be­hal­ten.


Die Nütz­lich­keit der Reli­gi­on im 21. Jahr­hun­dert

Reli­gi­on ist zwar eine Form des Aber­glau­bens aus archai­schen Zei­ten, besitzt aber trotz­dem eine nicht unbe­deu­ten­de Funk­ti­on: Sie kann den Zusam­men­halt und die Zusam­men­ar­beit sowie den fried­li­chen Umgang mit­ein­an­der för­dern.

Dies gilt zwar meis­tens nur dort, wo Men­schen der glei­chen Reli­gi­on ange­hö­ren und dann auch nicht immer und wirk­lich – aber bes­ser als gar nicht. Viel­leicht dämp­fen sie unse­ren Hang zur Gewalt­tä­tig­keit.

Mög­li­cher­wei­se ist die­ser posi­ti­ve Effekt grö­ßer als der Scha­den, den sie oft anrich­ten (Krie­ge, Lebens­feind­lich­keit, Leid und Tod, Fort­schritts­feind­lich­keit und Ähn­li­ches mehr), sodass unterm Strich gesagt wer­den kann: Noch brau­chen wir die Reli­gio­nen, denn ohne sie wäre das Cha­os in der Welt noch grö­ßer. Beweis­bar ist die­se The­se nicht.

Reli­gi­on: Bestand­teil unse­rer natür­li­chen Ent­wick­lung

Reli­gi­on ist auch heu­te noch berech­tigt, denn sie ist ein Bestand­teil unse­rer Ent­wick­lung. Aus die­sem Grund soll­ten wir die Tat­sa­che, dass so vie­le Men­schen noch an einen über­na­tür­li­chen, all­mäch­ti­gen Herr­scher glau­ben, aner­ken­nen und respek­tie­ren. Das bedeu­tet aller­dings nicht, dass wir die­ses Ver­hal­ten nicht kri­ti­sie­ren dür­fen.

Ver­sucht man, Kin­dern ihre Kind­lich­keit aus­zu­trei­ben, wird man ent­we­der schei­tern oder Scha­den anrich­ten. Bei der Mensch­heit ist es nicht anders: Wür­de man ver­su­chen, sie künst­lich auf eine Wahr­neh­mungs- oder Bewusst­seins­stu­fe zu heben, zu der sie noch nicht reif ist, wäre der Scha­den wahr­schein­lich noch viel grö­ßer als bei einem Kind, dem man sei­ne Kind­lich­keit nicht gönnt.

Wir brau­chen also unse­ren Glau­ben an einen Moral stif­ten­den Über­va­ter noch, denn wir sind als Mensch­heit noch nicht fähig, eigen­ver­ant­wort­lich rich­tig zu han­deln. Des­halb ist es bes­ser, die Mensch­heit lebt ihre reli­giö­sen Bedürf­nis­se aus.


Den reli­giö­sen Pla­ce­bo­ef­fekt nut­zen

Auf Dau­er müs­sen wir natür­lich ler­nen, unab­hän­gig von einer reli­giö­sen (oder sonst wie gear­te­ten) Leh­re, freund­lich und fried­lich mit­ein­an­der aus­zu­kom­men. Zu oft ist unse­re Freund­lich­keit abhän­gig von einer Dok­trin, die nicht wei­ter reicht, als bis zu unse­rer Haus­tür. Das muss sich ändern.

Bei eini­gen Sek­ten ist das beson­ders deut­lich: Tritt bei­spiels­wei­se ein Zeu­ge Jeho­va aus sei­ner Glau­bens­ge­mein­schaft aus, wird er oft von sei­nen ehe­ma­li­gen Glau­bens­ge­nos­sen ange­fein­det. Wirk­lich freund­li­che Men­schen wür­den sich nie­mals so ver­hal­ten.

Freund­lich­keit, wie sie inner­halb bestimm­ter Glau­bens­ge­mein­schaft exis­tiert, ist nur beding­te Freund­lich­keit, ähn­lich einer Kame­rad­schaft. Kame­rad­schaft exis­tiert dort, wo ein gemein­sa­mes Inter­es­se besteht. Wir sind freund­lich zuein­an­der, weil wir auf­ein­an­der ange­wie­sen sind. Ver­schwin­det die­ses gemein­sa­me Inter­es­se, ver­schwin­det auch die Freund­schaft.

Aller Anfang ist schwer

Trotz­dem kann gesagt wer­den: Obwohl wir oft nur freund­lich und fried­lich zuein­an­der sind, weil wir der glei­chen Reli­gi­on, dem glei­chen Kul­tur­kreis oder Ver­ein ange­hö­ren, ist das bes­ser als nichts. Denn es geht nur um Fried­lich­keit und Freund­lich­keit. Wie die­se zustan­de kom­men, ist zunächst ein­mal unwich­tig.

Dass wir meis­tens nur auf­grund bestimm­ter Vor­be­din­gun­gen bereit sind, uns freund­lich und fried­lich zu ver­hal­ten, ist natür­lich scha­de. Es wäre jedoch dumm, Fried­lich­keit abzu­leh­nen, nur weil sie nicht bedin­gungs­los ist. Reli­gi­on kann des­halb bei der Aus­ge­stal­tung einer fried­li­chen und freund­li­chen Welt hel­fen.

Weil sie kei­nen rea­len Hin­ter­grund besitzt, soll­ten wir sie nicht grund­sätz­lich ver­dam­men oder ableh­nen. Genau­so dumm wäre es, auf den Ein­satz von Pla­ce­bos zu ver­zich­ten, nur weil die­se kei­ne ech­te Medi­zin sind.


1 Gedanke zu „Reli­gi­on im 21. Jahr­hun­dert“

  1. Wir Men­schen schlie­ßen, schlos­sen halt von uns auf „Gott“ und jetzt ändert sich gera­de unse­re Vor­stel­lung von ihm in beson­ders dras­ti­scher und not­wen­di­ger Wei­se und wir wer­den eine huma­ne­re zeich­nen und auch die­se wird der Wand­lung unter­wor­fen sein.
    Die Quä­ker ahn­ten, dass etwas von Gott in jedem Men­schen ist. Das Lau­schen in sich emp­fan­den sie als Hil­fe. Voll­kom­men waren sie frei­lich auch nicht, weil alles im Wer­den ist.

    Sym­pto­ma­tisch sehe ich auch das Hin- und Her- Rin­gen des Paps­tes Fran­zis­kus. Was er Gutes hier­bei tut und nicht alles schaf­fen kann.… Und dass er dabei sei­ne see­li­sche Gesund­heit behal­ten hat, ist erstaun­lich. Man freut sich über ihn und mit­un­ter erschrickt man.…

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