Traditionen sind keine Friedensstifter
Es macht keinen Sinn, Regel weiterhin anzuwenden, wenn es die Situation, für die sie gemacht wurden, gar nicht mehr gibt.
Wir finden es oft wichtig, unsere national-kulturellen Traditionen zu pflegen. Sie geben uns unsere Identität und Zugehörigkeit, verbunden mit einem Sicherheitsgefühl. Wir sagen: Ich bin ein Finne, Deutscher oder Ägypter.
Diese Identitäten finden ihren spezifischen Ausdruck in unseren nationaltypischen Brauchtümern und Traditionen, die uns von den anderen Nationen unterscheiden, abgrenzen und einen Teil unseres sozialen Hintergrundes definieren.
Unsere nationale Zugehörigkeit wurde uns durch Zufall in die Wiege gelegt – wir mussten sie uns nicht erwerben oder durch Leistung verdienen. Trotzdem sind wir auf sie stolz, als wäre sie eine erbrachte Leistung (als könnten wir etwas dafür, beispielsweise Deutscher zu sein). Doch dieser Stolz bedeutet nicht viel: Wären wir in einem anderen Land geboren, wären wir auf dieses stolz. Es ist beliebig!
Anglizismen: die verbalen Ausländer
Eine ähnliche Bedeutung besitzen unsere Sprachen. Wir bewahren und pflegen sie wie unsere Traditionen. Je mehr diese von unserer Sprache abhängt, desto stärker wehren wir uns gegen sogenannte Anglizismen.
Anglizismen sind etwas Ähnliches wie Ausländer. Wer nichts gegen Menschen aus anderen Ländern hat, sollte auch nichts gegen deren Sprache haben. Denn es ergäbe keinen Sinn zu sagen: „Ich habe nichts dagegen, wenn Ausländer hier leben, aber ich mag ihre Wörter nicht!“
Wenn wir Anglizismen ablehnt, outet wir uns deshalb indirekt als Nationalisten und evtl. auch als fremdenfeindlich.
Unser Selbstbewusstsein ist nicht viel wert, wenn es auf Traditionen, Brauchtümern, unserer Sprache oder der nationalen Identität angewiesen ist. Denn nichts davon haben wir selbst erschaffen, sondern nur zufällig geerbt. Es ist ein geborgtes Selbstbewusstsein, denn nimmt man uns unsere Traditionen weg oder verlieren wir sie, verschwindet auch unsere Identität und damit unser Selbstbewusstsein.
Weniger Traditionen, mehr Friedlichkeit
Aus diesem Grund sollten wir unseren heimatlichen Traditionen weniger Aufmerksamkeit schenken und stattdessen eine neue entwickeln, auf die wir wirklich stolz sein können: die »Tradition der grundsätzlichen Friedlichkeit und Freundlichkeit«.
Denn diese „Tradition“ wäre eine mit zukunftsstabilisierenden Eigenschaften. Die konventionellen, auf nationalen Eigenarten gründenden Traditionen besitzen solche Eigenschaften nicht. Sie sind eher die vergangenheitsbewahrenden Faktoren einer Kultur und fungieren in erster Linie als Identitätsbewahrer und Stabilisatoren der gesellschaftlichen Ordnung.
Stabilität einer Gesellschaft ist natürlich sehr wichtig – allerdings sind unsere kulturbewahrenden Traditionen direkt oder indirekt auch für die Aufspaltung der Menschheit verantwortlich. Und das bedeutet: Es gibt traditionsbedingt periodisch Konflikte zwischen den Nationen.
Innere Werte statt äußere Traditionen
Wir müssen lernen, unser Selbstbewusstsein, unsere Identität oder unseren Stolz nicht auf äußere, zufällig geerbte Umstände zu gründen, sondern auf innere Werte, auf das, was wir wissen, fühlen und wirklich geleistet haben. Denn eine solche Identität kann uns nicht genommen werden. Dann benötigen wir keine nationale Zugehörigkeit, um mental stabil zu sein.
Doch leider gibt es (noch) keine »Tradition der Friedlichkeit und Freundlichkeit«. Es wäre gut, sie möglichst schnell zu entwickeln, denn für unsere globale Zukunft werden wir sie (oder etwas Vergleichbares) dringend brauchen.
Die besten Traditionen taugen nichts, wenn sie uns nicht helfen, grenzüberschreitend friedlich miteinander auszukommen.