Dena­tio­na­li­sie­rung


Der Planet Erde, umgeben von vielen Gesichtern und jubelnde Menschen aller Nationen.

Eine zukünf­ti­ge Welt ohne Natio­nen

Eine ent­schei­den­de Vor­aus­set­zung für eine fried­li­che­re Zukunft ist die Auf­lö­sung oder zumin­dest Auf­wei­chung natio­na­ler Iden­ti­tä­ten – zuguns­ten einer gemein­sa­men, glo­ba­len, man könn­te auch sagen »irdi­schen« Iden­ti­tät.

Vor 1000 Jah­ren bestand Deutsch­land noch aus Dut­zen­den König­rei­chen und Fürs­ten­tü­mern. Das führ­te immer wie­der zu Kon­flik­ten und Krie­gen. Doch im Lauf der Zeit wuchs Deutsch­land zusam­men, sodass heu­te in Deutsch­land Frie­den herrscht. Man hat gelernt, dass es kei­nen ver­nünf­ti­gen Grund gibt, sich gegen­ein­an­der abzu­gren­zen. Des­halb geht es Deutsch­land jetzt deut­lich bes­ser als damals.

Auch in den meis­ten ande­ren Län­dern der Welt gab es die­sen Pro­zess des Zusam­men­wach­sens. Und das Glei­che muss auch in den nächs­ten Jahr­hun­der­ten mit der Welt gesche­hen, damit es der gesam­ten Mensch­heit in der Zukunft bes­ser geht. Es gibt kei­nen ande­ren Weg.

Wir müs­sen daher ler­nen, uns als »Ter­ra­ner«, als Erden­bür­ger zu begrei­fen, denn natio­na­le Ego­zen­trik ist eben­so schäd­lich wie indi­vi­du­el­le. Die­sen Wan­del kön­nen wir als Dena­tio­na­li­sie­rung bezeich­nen – einen Pro­zess, der durch die Eman­zi­pa­ti­on der Indi­vi­dua­li­tät ein­ge­lei­tet wird.

Die Eman­zi­pa­ti­on der Indi­vi­dua­li­tät

Indi­vi­dua­li­tät wird oft fälsch­li­cher­wei­se mit Ego­is­mus gleich­ge­setzt – einer über­stei­ger­ten Fixie­rung auf das eige­ne Ich.

Zwar sind wir alle Indi­vi­du­en, doch man hat uns bei­gebracht, uns selbst nicht wich­tig zu neh­men. „Du bist nichts, dein Land ist alles“ – ein Satz, der beson­ders in stark natio­nal gepräg­ten Län­dern Kin­dern ein­ge­impft wird. Wer das glaubt, hin­dert sich dar­an, ein selbst­be­stimm­ter, selbst­be­wuss­ter und eigen­ver­ant­wort­li­cher Mensch zu wer­den.

Auch der Begriff »Eman­zi­pa­ti­on« wird häu­fig miss­ver­stan­den, fehl­in­ter­pre­tiert oder gar bewusst ver­zerrt. Heu­te ver­bin­den wir ihn meist mit der „Frau­en­be­frei­ungs­be­we­gung“. Oft­mals wird er von Män­nern abwer­tend benutzt, um Frau­en, die ein selbst­be­stimm­tes Leben füh­ren wol­len, ins Lächer­li­che zu zie­hen.

Doch Eman­zi­pa­ti­on bedeu­tet nichts ande­res als Selbst­be­frei­ung – und die­se führt zur Selbst­ver­ant­wor­tung. Und nichts braucht die Welt drin­gen­der als mün­di­ge, selbst­be­stimm­te Men­schen, denn sie sind die Vor­aus­set­zung für eine fried­li­che und freie Gesell­schaft.

Von der natio­na­len Iden­ti­tät zur indi­vi­du­el­len Ein­zig­ar­tig­keit

Wei­chen wir unse­re natio­na­le Iden­ti­tät zuguns­ten unse­rer per­sön­li­chen auf, blei­ben wir natür­lich wei­ter­hin Mexi­ka­ner, Bel­gi­er oder Tür­ken – das lässt sich inner­halb weni­ger Gene­ra­tio­nen ohne­hin nicht ändern. Doch unse­re zufäl­li­ge natio­na­le Zuge­hö­rig­keit darf unse­re ein­zig­ar­ti­ge indi­vi­du­el­le Iden­ti­tät als Mensch weder über­de­cken noch kor­rum­pie­ren. Sie darf uns nicht ver­ges­sen las­sen, dass wir in ers­ter Linie Men­schen sind – und erst in zwei­ter Linie Deut­sche, Afri­ka­ner oder Chi­ne­sen.

Des­halb ist die Indi­vi­dua­li­sie­rung ein not­wen­di­ger Pro­zess, der der Dena­tio­na­li­sie­rung vor­aus­geht.

Wenn wir uns nicht mehr pri­mär als Juden, Fran­zo­sen, Inu­it oder Bra­si­lia­ner begrei­fen, son­dern als Men­schen, die gemein­sam die­sen Pla­ne­ten bewoh­nen, fällt es uns leich­ter, soge­nann­te Frem­de als gleich­wer­tig zu erken­nen.

Die »Eman­zi­pa­ti­on der Indi­vi­dua­li­tät« bedeu­tet, sich nicht län­ger als iso­lier­tes Wesen zu ver­ste­hen, das sich im Kon­kur­renz­kampf behaup­ten muss und nur dann koope­riert, wenn es sich einen Vor­teil davon ver­spricht.

Das Ende des Her­den­men­schen

Mit der Eman­zi­pa­ti­on des Indi­vi­du­ums endet das Zeit­al­ter des Her­den­men­schen. Zwar blei­ben wir wei­ter­hin sozia­le Wesen, ein­ge­bun­den in die Gesell­schaft und wert­voll für sie – doch aus einem ande­ren Grund. Der Her­den­mensch, der Mit­läu­fer, rich­tet sich instink­tiv nach der kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Haupt­strö­mung sei­ner Umge­bung. Sein obers­tes Ziel ist das Über­le­ben, und genau des­halb wird er gebraucht – sei­ne Anpas­sung sichert ihm Akzep­tanz und Legi­ti­mi­tät.

Das eman­zi­pier­te Indi­vi­du­um hin­ge­gen hat erkannt, dass in einer offe­nen und frei­en Gesell­schaft Begrif­fe wie »Über­le­ben« oder »Sicher­heit« nicht mehr die zen­tra­len Maß­stä­be des Han­delns sind.

Obwohl wir Indi­vi­du­en sind und uns gele­gent­lich ego­is­tisch ver­hal­ten, ist unser Den­ken, Han­deln und Füh­len nicht län­ger von einer kurz­sich­ti­gen Über­le­bens­stra­te­gie geprägt. Unse­re Indi­vi­dua­li­tät und Ein­zig­ar­tig­keit ver­ste­hen wir nicht mehr als Abgren­zung, son­dern als Berei­che­rung – als Aus­druck der Viel­falt des glo­ba­len Daseins.


Die Illu­si­on des Erwach­sen­seins

Wol­len wir unse­re Indi­vi­dua­li­tät eman­zi­pie­ren, müs­sen wir noch einen zusätz­li­chen Aspekt berück­sich­ti­gen, von dem nur sehr weni­ge Men­schen wis­sen: Als Erwach­se­ne haben wir in der Regel kein wirk­li­ches Erwach­se­nen­be­wusst­sein!

Meis­tens hat unser Bewusst­sein als Erwach­se­ne noch stark infan­ti­le, unaus­ge­reif­te Züge. Oft sind wir kaum mehr als Jugend­li­che in einem Erwach­se­nen­kör­per, berauscht von den Mög­lich­kei­ten des Erwach­sen­seins: Wir toben uns ledig­lich aus und holen all das nach, was uns in unse­rer Jugend und Kind­heit ver­wehrt war.

Ein wirk­li­ches Erwach­se­nen­be­wusst­sein bedeu­tet zu erken­nen, dass vie­les – wenn nicht fast alles –, was wir in unse­rer Jugend und Kind­heit gelernt und geglaubt haben, unreif oder gar falsch war.

Wir glau­ben zwar, die Unrei­fe unse­rer Jugend und Kind­heit hin­ter uns gelas­sen zu haben, doch das ist nur zum Teil so: Das Vor­ur­teils­den­ken und die ideo­lo­gi­schen und reli­giö­sen Kon­di­tio­nie­run­gen, die wir von unse­ren Eltern und Leh­rern über­nom­men haben, legen wir auch nach Been­di­gung unse­rer Jugend nur sel­ten voll­stän­dig ab. Oft geschieht sogar das Gegen­teil: Wir ver­in­ner­li­chen die­ses kon­di­tio­nier­te Den­ken und Füh­len in spä­te­ren Jah­ren noch.

Unse­re per­sön­li­che Ent­wick­lung soll­te nicht mit dem Ein­tritt in die Voll­jäh­rig­keit enden – doch genau das geschieht lei­der viel zu oft. Ein ech­tes Erwach­se­nen­be­wusst­sein weiß: Der indi­vi­du­el­le Ent­wick­lungs­pro­zess endet nie­mals – selbst im hohen Alter nicht.

Von der kol­lek­ti­ven Schein­in­di­vi­dua­li­tät zur ech­ten Indi­vi­dua­li­tät

Unse­re ver­meint­li­che Indi­vi­dua­li­tät ist meist nichts wei­ter als eine kol­lek­ti­ve Illu­si­on – eine Pau­schal- oder Schein­in­di­vi­dua­li­tät. Denn ein wirk­li­ches Indi­vi­du­um defi­niert sich nicht als Inder, Por­tu­gie­se oder Aus­tra­li­er, son­dern als Mensch, der zufäl­lig in einer Regi­on gebo­ren wur­de, die wir Indi­en, Por­tu­gal oder Aus­tra­li­en nen­nen, der zwangs­läu­fig die dor­ti­ge Spra­che spricht und mit der jewei­li­gen Kul­tur auf­ge­wach­sen ist.

Ein sol­cher Mensch erkennt die Belie­big­keit sei­ner Spra­che und Kul­tur – er ver­steht, dass sie weder tie­fe­re noch wah­re­re Eigen­schaf­ten besit­zen als ande­re. Er sieht sich nicht als Rus­se, Nige­ria­ner oder Ita­lie­ner, son­dern als Erden­bür­ger, der gemein­sam mit ande­ren auf die­sem Pla­ne­ten lebt. Die Her­aus­for­de­rung besteht dar­in, genau das zu begrei­fen. Nur dann kann die Mensch­heit eine gute Zukunft haben.


MEHR FRIED­LICH­KEITWENI­GER TRA­DI­TIO­NEN


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