The­is­mus


Über einem Tal schwebt in einer purpurnen Wolke ein ausdrucksloses männliches Gesicht.

Kei­ne Lust auf mora­li­sche Eigen­ver­ant­wort­lich­keit

Wenn wir uns im 21. Jahr­hun­dert in mora­li­schen, ethi­schen und phi­lo­so­phi­schen Fra­gen an uralten, archai­schen Tex­ten ori­en­tie­ren, leh­nen wir ein selbst­be­stimm­tes und moder­nes Leben ab.

Die­se Behaup­tung klingt für einen Gläu­bi­gen wahr­schein­lich wie eine gemei­ne Unter­stel­lung und Dif­fa­mie­rung. Doch ich behaup­te, wer in der Bibel mehr sieht, als eine Text­samm­lung, mit der unse­re archai­schen Vor­fah­ren ver­sucht haben, sich ihre Welt zu erklä­ren, hat Angst vor dem Leben und dem Dasein selbst. Denn das Leben erwar­tet von jedem Men­schen, sich zu ent­schei­den, was er den­ken und wie er Leben will.

Wer für sein Den­ken und Han­deln nicht die Ver­ant­wor­tung über­neh­men will, sucht sich eine Auto­ri­tät, die ihm die­se Bür­de abnimmt. Das kann eine Ideo­lo­gie oder Reli­gi­on sein. Die­se Absi­che­rung benö­ti­gen wir zur Fes­ti­gung unse­res see­li­schen Gleich­ge­wich­tes, wenn unse­re geis­ti­ge und mora­li­sche Inte­gri­tät schwach ist.

In Moral und Ethik eigen­ver­ant­wort­lich den­ken­de, füh­len­de und han­deln­de Men­schen ori­en­tie­ren sich nicht an den Nie­der­schrif­ten ande­rer, erst recht nicht, wenn die­se bereits Jahr­tau­sen­de alt sind.

Des­halb kann über­spitzt gesagt wer­den: Als The­is­ten sind wir neu­ro­ti­sche Oppor­tu­nis­ten und benö­ti­gen für unser inne­res Wohl­be­fin­den eine äuße­re fes­te Struk­tur und Hier­ar­chie, die uns vor­gibt, was rich­tig und falsch ist. Wir selbst trau­en uns nicht, das selbst zu ent­schei­den.

Fest­hal­ten an archai­schen Vor­stel­lun­gen

Als The­is­ten strei­ten wir nicht ab, dass unser Glau­be kein Wis­sen ist. Wir reden vom Glau­ben und pfle­gen ihn auch. Er sei jedoch nur for­mel­les Glau­ben, behaup­ten wir. Eigent­lich sei er eine Form aprio­ri­sches Wis­sen, das wir auf­grund sei­ner Unbe­weis­bar­keit Glau­be nen­nen.

Die­ses inne­re, intui­ti­ve Wis­sen ist eine unge­prüft über­nom­me­ne Leh­re, die von längst ver­stor­be­nen Men­schen vor Jahr­tau­sen­den ent­wi­ckelt wur­de, auf dem Hin­ter­grund der damals vor­herr­schen­den all­um­fas­sen­den Unwis­sen­heit.

Wir wis­sen heu­te, dass die Prä­mis­sen unse­rer Reli­gi­ons­stif­ter falsch waren. Des­we­gen gibt es kei­nen Grund mehr, an die­sem bron­ze­zeit­li­chen Welt­erklä­rungs­ver­such fest­zu­hal­ten. Tun wir es den­noch, prak­ti­zie­ren wir Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung.


Spi­ri­tu­el­les Füh­len

Füh­len ist eine Form des Tas­tens. Wenn wir tas­ten, inter­pre­tie­ren wir blind bestimm­te Ein­drü­cke. Wir ver­trau­en einer äuße­ren Sen­so­rik.

Das Ver­trau­en beim Füh­len mit den Fin­gern ist sehr sinn­voll, denn die tak­ti­le und hap­ti­sche Wahr­neh­mung ist evo­lu­tio­när ent­stan­den, sie ist ein rea­les Wahr­neh­mungs­sys­tem, das nach­weis­lich funk­tio­niert. Bein Füh­len und Tas­ten mit den Fin­gern gibt es eine rea­le »Schnitt­stel­le«: die Fin­ger­kup­pen und die befühl­te Ober­flä­che.

Das »men­ta­le Füh­len«, das intui­ti­ve Erfas­sen vom Wis­sen (bei­spiels­wei­se über Gott), ist hin­ge­gen etwas völ­lig ande­res. Hier ver­trau­en wir auf das Vor­han­den­sein einer spi­ri­tu­el­len Schnitt­stel­le, für die es kei­ne Bewei­se gibt. Wir füh­len oder glau­ben ein­fach, dass es sie gibt, weil es uns gesagt wur­de und uns die­se Vor­stel­lung natür­lich gefällt.

Intui­ti­on: das unter­be­wuss­te Ver­ar­bei­ten von Infor­ma­tio­nen

Intui­ti­on ist etwas sehr Gutes und oft kön­nen wir uns auch auf sie ver­las­sen. Spü­ren wir bei­spiels­wei­se, einer bestimm­ten Per­son nicht trau­en zu kön­nen, hat unser Unter­be­wusst­sein Infor­ma­tio­nen auf­ge­grif­fen und ver­ar­bei­tet.

Wir haben viel­leicht die Kör­per­spra­che die­ser Per­son unbe­wusst gele­sen oder erin­nern uns, wie sie sich in der Ver­gan­gen­heit in bestimm­ten Situa­tio­nen ver­hal­ten hat. Die­se gesam­mel­ten Ein­drü­cke befä­hi­gen uns, ihre Ver­trau­ens­wür­dig­keit ein­zu­schät­zen.

Natür­lich kön­nen wir uns irren (viel­leicht auf­grund von Vor­ur­tei­len oder Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen), sodass unser Urteil über die­se Per­son falsch ist. Dann hat unse­re Intui­ti­on uns getäuscht – was vor­kom­men kann.

Bei der the­is­ti­schen oder spi­ri­tu­el­len Intui­ti­on ver­hält es sich jedoch anders. Hier gibt es nicht die Mög­lich­keit, ver­steck­te Infor­ma­tio­nen auf­zu­grei­fen, denn der Gegen­stand unse­rer Betrach­tung (der Hin­ter­grund des Phä­no­mens der Exis­tenz) lässt sich von innen her­aus nicht wahr­neh­men.

Sub­jek­ti­vi­tät, der Feind aller Objek­ti­vi­tät

Die Per­son, der wir gefühls­mä­ßig nicht ver­trau­en, kön­nen wir von außen sehen und in ihrer Gesamt­heit wahr­neh­men. Des­we­gen erhal­ten wir Infor­ma­tio­nen, die es uns ermög­li­chen, ihre Glaub­wür­dig­keit intui­tiv oder gefühls­mä­ßig ein­zu­schät­zen.

Bei dem Phä­no­men der Exis­tenz haben wir die­se Mög­lich­keit jedoch nicht, denn wir sind selbst ein Teil davon. Alles, was wir also glau­ben über die Exis­tenz und den Ursprung allen Seins intui­tiv oder a prio­ri wis­sen zu kön­nen, ist rein sub­jek­tiv und hat eher etwas mit uns selbst zu tun, als dem Phä­no­men, das es zu beur­tei­len gilt.

Sind wir also von der Exis­tenz Got­tes über­zeugt, weil wir sie »spü­ren«, »füh­len«, in unse­rem Inne­ren von ihr »wis­sen«, sub­li­mie­ren wir nur unse­re reli­giö­se Erzie­hung. Uns wur­de in unse­rer Kind­heit so oft gesagt, »es gibt Gott«, dass wir jetzt tat­säch­lich glau­ben, es spü­ren zu kön­nen – im Prin­zip ein ein­fa­cher Effekt. Denn wird uns etwas nur oft genug gesagt, glau­ben wir es auch irgend­wann.

Es ist leicht und ver­füh­re­risch, das zu glau­ben, wovon wir emo­tio­nal und men­tal abhän­gig sind. Dann igno­rie­ren oder über­se­hen wir schnell, dass unse­rem Glau­ben die rea­le Grund­la­ge fehlt. Die tat­säch­li­che Grund­la­ge unse­res Glau­bens ist dann die emo­tio­na­le Abhän­gig­keit, von der wir nichts wis­sen und auch nichts wis­sen wol­len.


INTER­PRE­TA­TI­ON DER BIBEL


5 Gedanken zu „The­is­mus“

  1. Weil alle Got­tes­ge­schich­ten furcht­bar sind – und zwar in jeder Reli­gi­on und in jeder Epo­che der Geschich­te – ist die Mensch­heit reli­gi­ös tief ver­letzt.

    Ich habe flei­ßig ver­sucht, den Begriff „Gott“ irgend­wie zu ret­ten, für mich selbst, für mei­ne Leu­te und ande­re Men­schen, aber es gelang mir nicht.
    Nicht mal die „Gän­se­füß­chen“ hal­fen.

    Es brach­te das Glei­che, was es immer war.

    Aber was ich glau­be:
    Es gibt etwas Geheim­nis­vol­les, das unser Spat­zen­ge­hirn nie ganz erken­nen wird:
    Es geschieht, ereig­net sich, spielt sich ab, kris­tal­li­siert sich,ist Ord­nung im Cha­os,
    ist nicht per­so­nal.
    Ler­nen wir in auf­rich­tig guter Gesin­nung den Men­schen gegen­über zu leben,
    auch wenn wir unse­re Unvoll­kom­men­heit dabei andau­ernd sehen wer­den.

    Im Eng­li­schen gibt es kei­nen guten Begriff, also kei­ne gute Über­set­zung für „Gesin­nung.“
    Unser Schul­di­rek­tor erwähn­te mal:
    „In die­ser Klas­se herrscht guter Geist“
    damals habe ich über­legt, was das ist.

    Antworten
  2. Es macht mir immer Spaß, das Sel­ber­ge­schrie­be­ne zu kri­ti­sie­ren:

    1.) Wer hat denn die Men­schen reli­gi­ös so tief ver­letzt?

    Die Mensch­heit hat es sel­ber getan!
    Und nie­mand kann dich so sehr ver­let­zen, wie du es sel­ber mit dir machst.

    2.) Hast du Aki­re, den Begriff ret­ten wol­len oder Gott ret­ten wol­len?

    Wenn ich­mein „christ­li­ches Arbei­ten“

    Antworten
  3. The­is­ten füh­len sich in einem fremd­be­stimm­ten Leben woh­ler, als in einem eigen­ver­ant­wort­li­chen. Sie wol­len für ihre Taten und deren Resul­ta­te nicht ver­ant­wort­lich sein“

    Und der Arti­kel hat sich auto­ma­tisch selbst dis­qua­li­fi­ziert. Eine rei­he von Ste­reo­ty­pen und vor­ur­tei­len die aus­se­hen wie Argu­men­te aber eigent­lich kei­ne sind.

    ganz davon abge­se­hen das nahe­zu jede Reli­gi­on das genaue gegen­teil lehrt

    Antworten
  4. Doch wodurch hat sich der Arti­kel selbst dis­qua­li­fi­ziert? Wel­che Text­stel­len sind dafür ver­ant­wort­lich? Wel­che Ste­reo­ty­pen und Vor­ur­tei­le miss­brau­che ich als Argu­men­te?
    War­um leh­ren Reli­gio­nen das Gegen­teil von dem, was ich schrei­be? Ich habe noch nie irgend­wo gehört oder gele­sen, dass Reli­gio­nen sagen: „Ent­wick­le dei­nen eige­nen Lebens­stil, ori­en­tie­re dich nicht an dem, was ande­re dir vor­le­ben.“ Nur wenn sie das täten, wür­den sie die Eigen­ver­ant­wor­tung för­dern.

    Wer weiß, viel­leicht irre ich mich ja – so etwas kann pas­sie­ren. Doch das, was ich schrei­be, ist das, was ich beob­ach­te und in der Welt der Reli­gio­si­tät wahr­neh­me. Soll ich das igno­rie­ren?

    Mei­ne Asso­zia­ti­on ist: Wer sein Leben nach dem, was ande­re Men­schen vor zwei oder drei Tau­send Jah­ren gedacht haben, aus­rich­tet, lehnt die Eigen­ver­ant­wor­tung ab. Oder: In Moral und Ethik eigen­ver­ant­wort­lich den­ken­de, füh­len­de und han­deln­de Men­schen ori­en­tie­ren sich nicht an jahr­tau­sen­de­al­ten Schrif­ten. Das ist nur logisch. Wenn Sie den­ken, dass die­se Asso­zia­ti­on falsch ist, möch­te ich Sie bit­ten, mir zu erklä­ren, war­um.
    Ein­fach nur von Selbst­dis­qua­li­fi­ka­ti­on, Ste­reo­ty­pen und Vor­ur­tei­len zu spre­chen, ohne auch nur das Gerings­te davon auf­zu­zei­gen, reicht nicht aus.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar