War­um sich Anti­se­mi­tis­mus ent­wi­ckeln konn­te

Ein­lei­tung

Der Anti­se­mi­tis­mus gehört zu den lang­le­bigs­ten und zugleich wan­del­bars­ten Feind­bil­dern der Mensch­heits­ge­schich­te. Er erscheint in unter­schied­li­chen For­men – reli­gi­ös, sozi­al, poli­tisch, ras­sis­tisch –, und doch trägt jede sei­ner Vari­an­ten die­sel­be Grund­struk­tur: eine Gesell­schaft pro­ji­ziert ihre eige­nen Unsi­cher­hei­ten, Ängs­te und unge­lös­ten Span­nun­gen auf eine Min­der­heit, die sicht­bar anders ist und über wenig Mög­lich­kei­ten ver­fügt, sich gegen die­se Zuschrei­bun­gen zu weh­ren. Die Fra­ge, war­um sich aus­ge­rech­net gegen Juden eine so beharr­li­che Feind­schaft bil­den konn­te, führt tief zurück in die Anti­ke und hin­ein in die Ent­wick­lun­gen des frü­hen Chris­ten­tums. Dabei zeigt sich, dass nicht eine ein­zel­ne Ursa­che, son­dern eine kom­ple­xe Ver­ket­tung his­to­ri­scher Fak­to­ren not­wen­dig war, um die­ses lang­le­bi­ge Res­sen­ti­ment her­vor­zu­brin­gen.

Die reli­giö­se Beson­der­heit des Juden­tums

Bereits in den frü­hen Jahr­hun­der­ten des Mit­tel­meer­raums fiel das Juden­tum durch eine reli­giö­se Son­der­stel­lung auf. Wäh­rend die römi­sche und hel­le­nis­ti­sche Welt ein Mosa­ik aus Göt­tern, Kul­ten und loka­len Tra­di­tio­nen war, beharr­ten die Juden auf einem stren­gen Mono­the­is­mus und einer Viel­zahl von reli­giö­sen Vor­schrif­ten, die ihr Gemein­schafts­le­ben präg­ten. Die­se Kom­bi­na­ti­on aus Abgren­zung und Selbst­be­haup­tung ver­lieh ihnen einer­seits Respekt, ande­rer­seits aber auch den Ruf, sich von der Mehr­heits­ge­sell­schaft abzu­schot­ten.

In Kul­tu­ren, in denen Reli­gi­on nicht nur ein pri­va­tes Bekennt­nis, son­dern ein unauf­lös­ba­rer Bestand­teil des sozia­len Lebens war, bedeu­te­te die­se Anders­ar­tig­keit auto­ma­tisch ein Fremd­sein. Juden nah­men nicht an den übli­chen städ­ti­schen Kul­ten teil, ver­wei­ger­ten sich heid­ni­schen Fes­ten und hiel­ten an eige­nen Bräu­chen fest. Sie wur­den damit zu einer Grup­pe, die klar erkenn­bar war, aber nie voll­stän­dig zur gesell­schaft­li­chen Mehr­heit gehör­te. Die­ser Außen­sei­ter­sta­tus war nicht feind­se­lig gedacht, schuf aber eine Grund­la­ge für spä­te­re Ver­däch­ti­gun­gen. Fremd­heit, auch wenn sie fried­lich ist, kann schnell zur Pro­jek­ti­ons­flä­che für eige­ne Pro­ble­me wer­den.

Die ent­schei­den­de Tren­nung: Chris­ten­tum und Juden­tum

Mit dem Auf­kom­men des Chris­ten­tums im 1. Jahr­hun­dert n. Chr. ver­än­der­te sich die Situa­ti­on grund­le­gend. Die jun­ge christ­li­che Bewe­gung ent­stand inner­halb des Juden­tums, ver­stand sich aber bald als des­sen Erfül­lung – und schließ­lich als des­sen Über­win­dung. Als sich her­aus­stell­te, dass die Mehr­heit der Juden Jesus nicht als Mes­si­as annahm, geriet die neue Reli­gi­on in ein Iden­ti­täts­pro­blem. Sie muss­te erklä­ren, war­um aus­ge­rech­net das Volk, dem Jesus ent­stamm­te, sei­ne Bot­schaft ablehn­te.

So ent­stand eine Theo­lo­gie, die das Juden­tum zuneh­mend nega­tiv dar­stell­te. Die Behaup­tung, die Juden hät­ten den Mes­si­as ver­wor­fen oder sei­en gar für sei­nen Tod ver­ant­wort­lich, wur­de im Lauf der Jahr­hun­der­te zu einem fes­ten Bestand­teil der kirch­li­chen Leh­re. Die­se Ideen waren nicht ein­fach reli­giö­se Mei­nun­gen; sie hat­ten mora­li­sches Gewicht und präg­ten das Bild der Juden als ver­stockt, blind oder gott­fern. Dass Juden Jesus nicht aner­kann­ten, war dabei nicht die Ursa­che des Anti­se­mi­tis­mus, aber sie bot ein reli­giö­ses Argu­ment, das für vie­le Gene­ra­tio­nen äußerst wirk­mäch­tig wur­de.

Hät­te es zwi­schen bei­den Reli­gio­nen eine fried­li­che, nicht-pole­mi­sche Tren­nung gege­ben, wäre mög­li­cher­wei­se vie­les anders ver­lau­fen. Doch jun­ge Bewe­gun­gen, die sich abspal­ten, ten­die­ren dazu, sich durch Abgren­zung zu defi­nie­ren. Dass dies im Fall von Juden­tum und Chris­ten­tum geschah, war eine his­to­ri­sche Tra­gö­die.

Gesell­schaft­li­che Fehl­ent­wick­lun­gen und öko­no­mi­sche Rol­le

Im Mit­tel­al­ter ver­stärk­te sich der Gra­ben wei­ter, aller­dings nicht pri­mär aus theo­lo­gi­schen Grün­den. Vie­le Staa­ten Euro­pas schlos­sen Juden von zen­tra­len Berei­chen der Wirt­schaft aus. Land­be­sitz war häu­fig ver­bo­ten, Zünf­te ver­wei­ger­ten ihnen den Zugang, und zahl­rei­che Beru­fe waren Chris­ten vor­be­hal­ten. Juden fan­den des­halb vor allem in Tätig­kei­ten Platz, die nicht durch tra­di­tio­nel­le Zunft­re­geln geschützt waren: Han­del, Finanz­dienst­leis­tun­gen, ins­be­son­de­re das Geld­ver­lei­hen.

Der christ­li­chen Mehr­heits­ge­sell­schaft kam die­se Rol­le zupass. Man benö­tig­te Kre­dit­ge­ber, woll­te die­se Tätig­keit aber mora­lisch nicht selbst ver­ant­wor­ten. So ent­stand ein para­do­xes Span­nungs­ver­hält­nis: Die Juden erfüll­ten eine gesell­schaft­lich not­wen­di­ge Funk­ti­on, wur­den dafür aber gleich­zei­tig mora­lisch ver­ur­teilt. In Zei­ten wirt­schaft­li­cher Sta­bi­li­tät konn­te die­se Span­nung ver­bor­gen blei­ben; in Kri­sen­zei­ten jedoch wur­de sie explo­siv.

Wie so oft in der Geschich­te waren die Bedin­gun­gen selbst geschaf­fen wor­den – und wur­den anschlie­ßend gegen die Betrof­fe­nen gewen­det. Juden gal­ten als fremd, weil man sie sozi­al iso­lier­te; sie gal­ten als geld­gie­rig, weil man sie in Beru­fe dräng­te, die ande­re nicht aus­üben woll­ten; sie gal­ten als mäch­tig, obwohl sie poli­tisch kei­ner­lei Ein­fluss besa­ßen. Ein Teu­fels­kreis ent­stand: Die Vor­ur­tei­le schu­fen die Ver­hält­nis­se, die dann als „Beweis“ für die Vor­ur­tei­le dien­ten.

Kri­sen und die Mecha­nik des Sün­den­bocks

Anti­se­mi­tis­mus erlang­te sei­ne zer­stö­re­ri­sche Wir­kung vor allem in Momen­ten gesell­schaft­li­cher Unsi­cher­heit. Wenn Seu­chen wüte­ten, Ern­ten aus­blie­ben oder poli­ti­sche Kon­flik­te eska­lier­ten, such­ten die Men­schen nach einer Ursa­che, die greif­bar war. Eine Min­der­heit, die sicht­bar anders war, zugleich aber mit­ten in der Gesell­schaft leb­te, bot dafür eine idea­le Pro­jek­ti­ons­flä­che.

Wäh­rend der Pest im 14. Jahr­hun­dert beschul­dig­te man Juden der Brun­nen­ver­gif­tung, obwohl die Krank­heit auf ganz ande­re Wei­se über­tra­gen wur­de. Bei wirt­schaft­li­chen Zusam­men­brü­chen war­fen Chris­ten ihnen Wucher vor. In Zei­ten poli­ti­scher Insta­bi­li­tät wur­den sie als Spio­ne, Lan­des­ver­rä­ter oder Ver­schwö­rer dif­fa­miert. Im Grun­de ließ sich jede gesell­schaft­li­che Stö­rung auf sie abla­den. Sie wur­den zu einem „All­zweck­sün­den­bock“, der in jeder Epo­che neu defi­niert und den jeweils aktu­el­len Bedürf­nis­sen ange­passt wer­den konn­te.

Die­se Funk­ti­ons­lo­gik erklärt viel von der Lang­le­big­keit des Anti­se­mi­tis­mus. Grup­pen, die völ­lig mar­gi­na­li­siert sind, eig­nen sich nicht als Sün­den­bö­cke, weil sie zu unbe­deu­tend erschei­nen. Grup­pen, die mäch­tig sind, las­sen sol­che Zuschrei­bun­gen nicht zu. Juden befan­den sich über Jahr­hun­der­te dazwi­schen: prä­sent, aber macht­los; erkenn­bar, aber ohne Schutz; nütz­lich, aber angreif­bar.

Hät­te alles anders kom­men kön­nen?

Die Geschich­te ist nie alter­na­tiv­los. Man kann sich durch­aus Sze­na­ri­en vor­stel­len, in denen der Anti­se­mi­tis­mus nicht die glei­che Wucht ent­fal­tet hät­te. Eine frü­he Tren­nung von Reli­gi­on und Staat hät­te reli­giö­se Feind­bil­der ent­po­li­ti­siert. Eine wirt­schaft­li­che Gleich­stel­lung hät­te die Ent­ste­hung schäd­li­cher Ste­reo­ty­pe ver­hin­dert. Und vor allem: eine weni­ger feind­se­li­ge theo­lo­gi­sche Ent­wick­lung hät­te die Grund­la­ge vie­ler spä­te­rer Vor­ur­tei­le aus­ge­höhlt.

Doch die his­to­ri­sche Rea­li­tät war eine ande­re. Über Jahr­hun­der­te hin­weg ver­stärk­ten sich reli­giö­se Dif­fe­renz, sozia­le Abson­de­rung und poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung gegen­sei­tig. Dadurch bekam der Anti­se­mi­tis­mus eine Sta­bi­li­tät, die ihn bis in die Moder­ne tra­gen konn­te – oft unter ver­än­der­ten Vor­zei­chen, aber mit den­sel­ben struk­tu­rel­len Mecha­nis­men.

Schluss­be­trach­tung

Anti­se­mi­tis­mus ist kein Spie­gel­bild jüdi­schen Han­delns, son­dern ein Spie­gel­bild der Gesell­schaf­ten, die ihn her­vor­brach­ten. Er ent­steht dort, wo Men­schen ihre eige­nen Defi­zi­te, Ängs­te und unge­lös­ten Pro­ble­me exter­na­li­sie­ren, wo Min­der­hei­ten als Con­tai­ner für kol­lek­ti­ve Unsi­cher­hei­ten die­nen, und wo reli­giö­se oder sozia­le Unter­schie­de zu mora­li­schen Urtei­len umge­formt wer­den.

Er ist damit ein Lehr­stück dar­über, wie Kul­tur, Reli­gi­on und Poli­tik zusam­men­wir­ken kön­nen, um Vor­ur­tei­le zu sta­bi­li­sie­ren, die sich über Jahr­tau­sen­de hal­ten. Und er erin­nert dar­an, wie fra­gil die Schwel­le ist, an der aus kul­tu­rel­ler Fremd­heit mora­li­sche Ver­ur­tei­lung wird – und aus Ver­ur­tei­lung Gewalt.

Wenn man begreift, wie Anti­se­mi­tis­mus ent­stand, ver­steht man auch, war­um er in so vie­len Gesell­schaf­ten funk­tio­nal war: Nicht, weil Juden ein Pro­blem dar­stell­ten, son­dern weil die Mehr­heit eines brauch­te.

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